Die Tore des Himmels
der Michel hilft mir, indem er gegen die Beine der anderen tritt. Die Landgräfin und ihre Tochter rauschen an mir vorbei, dann kommt die Große, Dunkle. Und hinter ihr mein Engel, der bestimmt keine Dienerin ist! Und weil die beiden mir schon mal was gegeben haben, halte ich ihnen einfach die Hand hin. Sie müssen mich schließlich noch kennen, vom Wald im letzten Frühling. Aber sie schauen mich an, als hätten sie mich noch nie gesehen. Ich bin so enttäuscht, dass ich die Hand fallen lasse. Da auf einmal greift die Große in die Falten ihres Kleides und streckt mir etwas hin. Ich nehme es, und der Engel streichelt mir dabei lächelnd über die Backe. Er hat Finger wie weiche Federn. Und er riecht so gut. Wie eine ganze Blumenwiese.
Die Bettler und die anderen Kinder schubsen uns weg, weil sie auch was haben wollen. Michel und ich rennen schnell um die nächste Ecke, und dann schauen wir nach, was uns die Dunkle gegeben hat. Es ist ein längliches Ding, fast schwarz und ganz klebrig. Ich lecke daran, dann beiße ich vorsichtig ein Stückchen ab. Es schmeckt himmlisch süß. Michel kostet auch und verdreht ganz verzückt die Augen. Und dann schlingen wir das gute Zeug ganz schnell hinunter, damit es uns keiner mehr wegnehmen kann, und ich schlecke mir danach noch sämtliche Finger ab.
»Kommen wir morgen wieder hierher?«, fragt Michel und lässt seine Hand über dem Bäuchlein kreisen, weil es ihm so gut geschmeckt hat. »Vielleicht kriegen wir dann noch mal was.«
Dann beeilen wir uns, dass wir nach Hause kommen. Mutter und Vater freuen sich über das schöne Brot, und wir sitzen alle um den neuen Tisch und essen. Vater reibt sich das Bein mit einer grünlichen Salbe ein, weil es immer weh tut. Morgen fängt er an zu arbeiten, und dann wird alles besser, sagt er.
Am nächsten Tag hole ich mit Michel erst den Nachtscherben, und auf dem Heimweg gehen wir dann zur Georgskirche. Aber dort ist gar nichts los. Keine Landgräfin, keine ungarische Prinzessin, und auch nicht mein Engel. Auch an den Tagen darauf warten wir umsonst. Schließlich traue ich mich und frage den Priester, als er aus der Sakristei kommt. »Die Landgräfin und ihre Jungfern?«, sagt er. »Die sind nicht mehr hier. Die Hofhaltung ist weitergezogen, auf die Neuenburg.«
»Aber kommen sie denn wieder?«
Der Priester nickt. »Natürlich. Irgendwann. Im Sommer vielleicht, oder im Herbst.«
Wir gehen mit hängenden Schultern heim in unseren müffelnden Schweinestall. Mutter hat gerade die Kleine an die Brust gelegt. »Wo bleibt ihr denn bloß, ihr Streuner?«, empfängt sie uns. »Primus, du sollst zum Vater in die Gerberei kommen. Da gibt es Arbeit für dich.«
»Arbeit«, frage ich, »für Geld?«
»Ja«, sagt Mutter. »Das brauchen wir, weil wir sonst nichts zu essen kaufen können.«
Ich wundere mich, weil doch der Vater Geld verdient. Mutter errät meine Gedanken. »Es reicht einfach nicht«, sagt sie. »Wir müssen alle mithelfen, so gut es geht.«
»Der Michel auch?«
Mutter schüttelt den Kopf. »Der Michel ist noch zu jung. Aber du bist mein Großer, und du schaffst das.«
Da bin ich stolz. Aber ich sehe auch, dass die Mutter müde ist und traurig.
»Mutter«, sage ich, »so schlimm ist es hier doch nicht. Es stinkt zwar, und auf dem Hof war’s schöner, aber jetzt haben wir doch ein Obdach, und der Vater kann arbeiten, und wir kriegen Almosen, und …«
»Almosen, ja«, sagt sie, und ihre Stimme hört sich zittrig an. »Bettler sind wir geworden, ach Gott.«
Da schäme ich mich auf einmal. »Wirst sehen, Mutter, ich arbeite so viel, dass wir keine Almosen mehr brauchen«, verspreche ich. »Und dann gibt’s jeden Tag Fleisch und Brot und Honigbrei.«
Sie lächelt und wischt eine Träne fort. »Beeil dich«, sagt sie.
Da bin ich schon zur Türe hinaus, bevor mich der Michel knuffen kann, weil er neidisch ist. Ganz viel Geld will ich verdienen, damit es uns bessergeht und die Mutter nicht mehr weinen muss.
Gisa
A ls wir im späten Frühjahr auf die Neuenburg zogen, wartete dort eine gute Nachricht auf uns: Otto der Welfe, vierter Kaiser seines Namens – wenn auch nur Gegenkaiser –, war am Samstag nach Cantate auf der Harzburg gestorben; eine kurze, aber schwere Krankheit hatte seinem wechselhaften Leben ein Ende gesetzt. Die Herrschaft der Staufer war damit nicht mehr strittig, der Krieg vorbei. Für mich war es ein merkwürdiges Gefühl. Mein ganzes Leben lang und schon Jahre davor hatten die großen Familien der
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