Die Tore des Himmels
sagt der Vater. Der Wirt, ein Fettwanst mit schiefer Nase und lauter kleinen runden Warzen auf den Händen, zuckt die Schultern. »Nehmt’s oder lasst es.« Wir nehmen es.
Der Einzug ist schnell gemacht. Wir legen den Strohsack in die Kammer und werfen unsere Decken drauf. Mutter stellt den irdenen Topf und ihre schöne gusseiserne Pfanne mit dem Dreifuß auf den Herdrand und steckt unsere Holzbrettchen ins Tellerbord. Dann haben wir noch zwei Näpfe, drei Becher, einen Schürhaken, ein großes und ein kleines Messer und unsere selbstgeschnitzten Löffel. Und ein paar Laken, einen Korb fürs Holz, einen Krug und einen Bottich zum Wasserholen. Dann noch den Besen und ein bisschen Werkzeug. Den Nachtscherben mit dem Sprung haben wir bei Onkel und Tante vergessen, den muss ich morgen holen. Während die Mutter den festgestampften Lehmboden kehrt, nimmt Vater den Karren auseinander und baut aus den Brettern einen Tisch und was zum Sitzen.
Mich schicken sie derweil zusammen mit Michel vor die Stadt zum Katharinenkloster. Denn jetzt ist die Zeit, wo an die Armen einmal in der Woche das Maibrot verteilt wird. Im Mai sind nämlich die alten Getreidevorräte verbraucht, und es ist noch keine neue Ernte da. Darum ist das Mehl so teuer, dass es sich nur noch die reichen Leute leisten können, und die Armen müssen hungern, außer sie kriegen milde Gaben.
Als wir zum Kloster kommen, steht schon eine ewig lange Schlange vor dem kleinen Tor. Wir stellen uns hinten an, gleich hinter einer winzigen alten Frau mit krummen Beinen, die dauernd mit dem Kopf wackelt, da müssen wir lachen. Es dauert ganz schön lang, aber am Schluss haben wir einen Laib Brot, so frisch und duftend, dass uns das Wasser im Mund zusammenläuft. In der Stadt ist es schon schön, denke ich, wenn man so gute Sachen ganz umsonst bekommt. Ich drücke das Brot ganz fest gegen meine Brust, und dann machen wir uns auf den Heimweg. Als wir die Rolle überqueren, einen weiten, offenen Platz, an dem das riesige Steingebäude liegt, wo der Landgraf wohnt, kommen uns ein paar Frauen und Mädchen zu Fuß entgegen. Die Leute, an denen sie vorbeigehen, verbeugen sich, also bleibe auch ich mit Michel stehen und warte neugierig. Und dann fällt mir fast mein Brot aus der Hand: Mein Engel ist dabei! Er sieht nicht mehr ganz so wie ein Engel aus, weil er jetzt ein grünes Kleid anhat, mit braunen Ärmeln, und die langen Haare hat er zu zwei Zöpfen geflochten. Aber ich erkenne ihn wieder, ganz genau, und mir wird ganz kribbelig im Bauch. Die Leute rufen irgendetwas, das muss eine Begrüßung sein oder eine Ehrenbekundung. Gleich geht mein Engel an mir vorbei, und ich muss auch was rufen, aber was? Ich überlege fieberhaft, und schließlich fällt mir der richtige Gruß ein: »Hosianna!«, piepse ich, weil ich vor lauter Aufregung meine Stimme verloren habe. Ein großer Junge neben mir schaut mich an, als sei ich nicht ganz bei Trost. »Spinnst du?«, fragt er. Und jetzt kräht auch noch Michel laut: »Hosianna!« Die Leute drehen sich um und lachen, und ich werde rot.
Eine Frau strubbelt mir von hinten übers Haar. »Ei, ihr müsst die nicht begrüßen wie unsern Herrn Jesus«, schmunzelt sie. »So weit kommt’s noch!«
»Wer war denn das?«, frage ich.
Die Frau erklärt es mir. »Ganz vorne im blauen Mantel, das war die Landgräfin-Mutter. Neben ihr, die mit dem hochmütigen Gesicht, ihre Tochter Agnes. Dahinter, die Dunkle, Große in dem einfachen grauen Gewand, das war die ungarische Prinzessin Elisabeth, die am Hof lebt. Die anderen sind allesamt Dienerinnen. Jeden Tag um diese Zeit gehen sie in die Georgskirche zum Beten.«
Die Dunkle habe ich auch wiedererkannt, die hat mir das Geldstück geschenkt. Aber mein Engel? Eine Dienerin? Kann gar nicht sein. Hach, was weiß denn die schon, denke ich.
»Du«, sage ich zu meinem Bruder, »wir warten, bis die wieder aus der Kirche kommen.«
Michel ist es recht. Wir setzen uns auf die Stufen vor dem Portal und beherrschen uns sehr, dass wir nicht vom Brot abbeißen. Während wir so warten, gesellen sich etliche Bettler zu uns und ein ganzer Haufen zerlumpter Kinder. Die schielen dauernd gierig auf unser Brot, bis ich es unter meinem löchrigen Hemd verstecke. Es dauert eine ganze Weile, aber dann geht das Tor auf, und die Frauen und Mädchen kommen heraus. Ich springe auf und stelle mich so hin, dass sie mich sehen können. Die Bettler fangen an zu rangeln und zu drängeln, aber ich lasse mich nicht wegrempeln, und
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