Die Tore des Himmels
Hohlpfennig haben kann. Sie streicht mir übers Haar und weint.
Ach, jetzt könnte ich meinen Engel gebrauchen, denke ich traurig. Wenn ich nur wüsste, wo ich ihn suchen soll!
Neuenburg, Mai 1219
E s war ein Maientag, wie man ihn sich schöner nicht vorstellen konnte; der rechte Tag zum Heimkommen. Überall saftiges, junges Grün, ein linder Wind wehte von Süden her und ließ kleine weiße Wölkchen über den Himmel tanzen. In den träge fließenden Wassern des Flusses brachen sich silbern die Sonnenstrahlen. Vorsichtig lenkte der Ritter sein Pferd durch die seichte Furt der Unstrut. Hinter sich führte er an der langen Leine ein Eselchen, das zwei beschlagene Kisten trug. Am Ufer, dort wo blau der Lerchensporn blühte, hielt er kurz an, beschattete seine Augen mit der Hand und sah nach oben zur mächtigen Anlage der Neuenburg. Wie ein grauer, steinerner Riese thronte die größte aller Ludowingerburgen über der Stadt Freyburg, reckte ihre Mauern wehrhaft himmelwärts. Ein Lächeln huschte über das sonnengebräunte Gesicht des Ritters. Dort war sie und wartete auf ihn. Nur noch ein kurzes Stück steilen Wegs, und er würde sie in seine Arme schließen. Sein Weib, die Frau, die er liebte, an die er an jedem einzelnen Tag in der Ferne voller Sehnsucht gedacht hatte. Er schnalzte mit der Zunge, und sein Rappe machte sich an den beschwerlichen Anstieg.
Am Tor wurde er vom Wächter angehalten. »Wer seid Ihr, Herr, woher des Wegs und was ist Euer Begehr?«
»Aber Hugo, kennst du mich denn nicht mehr?« Der Ritter breitete die Arme aus und lachte.
»Herr Raimund! Himmel, mit dem Bart hätt ich Euch beinah nicht erkannt!« Der Torwart senkte seine Hellebarde. »Nur immer herein, und willkommen daheim!«
Raimund von Kaulberg ritt in den Burghof ein; vor dem Bergfried stieg er ab und überließ sein Pferd und den Esel den Knechten des Marstalls. »Passt mir gut auf die beiden Kisten auf, ihr Burschen«, rief er. »Der Inhalt ist mir wert und teuer.«
Inzwischen hatte sich die Kunde von der Rückkehr des Kreuzritters wie ein Lauffeuer verbreitet. Im Hof lief alles zusammen, die Leute umringten den Heimkehrer, man schlug ihm auf die Schulter, umarmte ihn, brachte ihm zu trinken. Als sie ihn mit Fragen bestürmten, wehrte Raimund lachend ab. »Lasst ab, ihr Guten, und seht mir nach, dass ich zuallererst mein Weib umarmen will, bevor ich Geschichten erzähle.« Mit großen Schritten eilte er zum Eingang des Palas, nahm drei Stufen auf einmal auf dem Weg zum Frauenzimmer im zweiten Stockwerk des Wohnturms. Nachdem er sich vom Türsteher hatte anmelden lassen, betrat er die Gemächer der Landgräfin.
Sofort war er von den Damen und Mädchen des Hofes umringt, die ihm den Mantel abnahmen und ihn begeistert empfingen. Ein paar junge Mädchen umarmten ihn stürmisch. Eine von ihnen hielt sich abseits, erst am Ende sah er sie.
»Ja, Giselchen, hast du dich verändert!«, rief er, und sie nickte ernst. »Ich bin ja auch schon fast fünfzehn«, erwiderte sie. Er antwortete nicht, sondern blickte suchend umher. Alle aus dem Frauenzimmer waren da, ihn zu begrüßen. Aber wo war Eilika?
Die Tür zum Nebenzimmer ging auf, aber es war nicht Eilika, die eintrat, sondern die Landgräfin. Raimund verbeugte sich tief.
»Welch freudige Überraschung, Herr Raimund«, lächelte Sophia. »So seid Ihr also zurück aus Outremer. Konntet Ihr das heilige Grab den Heiden entreißen?«
Raimunds Gesicht verfinsterte sich. »Nein, Liebden, wir kamen nicht bis nach Jerusalem. Stattdessen belagert das Heer nun schon seit Monaten die Stadt Damiette in Ägypten. Ich wäre nicht zurückgekehrt, wenn nicht mein guter Vater an einem Schwerthieb gestorben wäre; das Wundfieber hat ihn dahingerafft. Sein letzter Wunsch war, neben meiner Mutter in der Heimat begraben zu werden.«
»Das tut mir leid zu hören«, antwortete die Landgräfin. »Ich habe Euren Vater sehr geschätzt.« Sie bemerkte, dass Raimunds Augen immer noch suchend hin- und herwanderten. »Ihr freut Euch sicher auf das Wiedersehen mit Eurem Weib«, sagte sie.
»Die ist ausgeritten«, fiel eine der Zofen ein.
»Oh«, sagte Raimund von Kaulberg enttäuscht. »Wisst Ihr vielleicht, wohin?«
Die Frauen schüttelten alle die Köpfe, bis auf Agnes. »Sie hat eine Lieblingsstelle, die sie niemandem verrät. Da reitet sie, glaube ich, oft hin.«
Raimund war erleichtert. Die alte Mallinde. Natürlich. Wie oft hatten er und Eilika sich dort getroffen, wenn der Hof auf der Neuenburg weilte.
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