Die Tore des Himmels
Bestimmt war sie dorthin geritten, um ungestört zu sein und an ihn zu denken. »Dann weiß ich, wo sie ist«, rief er fröhlich, warf sich den Mantel um und war schon zur Tür hinaus.
Gisas Lächeln erstarb. Mit hängenden Schultern stand sie da und überlegte fieberhaft, was sie tun sollte. Monatelang waren sie, Guda und Elisabeth der ahnungslosen Eilika hinterhergeschlichen, hatten jeden ihrer Schritte beobachtet. Nur darauf gewartet hatten sie, dass die blöde Ziege sich noch einmal an Ludwig herangemacht hätte! Wie gerne hätten sie sie bei der Landgräfin angeschwärzt! Aber Eilika war klug. Sie hielt sich vom Landgrafen fern, wollte nicht riskieren, sich Sophia endgültig zur Feindin zu machen und als Nonne hinter Klostermauern zu enden. Stattdessen hatte sie ihre Aufmerksamkeit einem der adeligen Einrosser zugewandt, dem jungen Albrecht von Bernroda, der genauso hübsch wie einfältig war. Seit Wochen trafen sich die beiden nun schon an der Mallinde. Gisa und die beiden anderen Mädchen hatten das Gefühl genossen, mit diesem Wissen Macht über Eilika zu haben. Schließlich konnten sie jederzeit zur Landgräfin gehen. Es war wie ein spannendes Spiel gewesen. Aber nun schlug dieses Spiel in bitteren Ernst um. Lieber Gott, dachte Gisa voll Entsetzen, wenn Raimund seine Frau mit ihrem Liebhaber überraschte – wer konnte wissen, was er dann tat? Vielleicht geriet er außer sich, vielleicht … Sie musste ein Unglück verhindern, unbedingt! Mit fliegenden Röcken rannte sie zu Sophia.
»Mutter, verzeiht«, rief sie atemlos, »wir müssen Herrn Raimund jemanden nachschicken, bitte!«
Sophia runzelte die Stirn. »Was soll das, Gisa? Warum denn und wohin überhaupt?«
»Weil … weil … na, weil sich Eilika dort mit dem dummen Bernroda trifft, deshalb!«
Die Landgräfin begriff sofort und wurde blass. »Lauf zu den Vargula-Brüdern auf den Turnieranger, sag, sie sollen mit allen, die dort sind – wohin?«
»Zur alten Mallinde.«
»… zur alten Mallinde reiten, es geht um Leben und Tod! Erklär’s ihnen!«
Gisa rannte, als sei der Teufel hinter ihr her.
Raimund schwang sich im Marstall auf das nächstbeste Pferd und ritt los, voller Vorfreude auf das Wiedersehen. Er durchquerte den Weinberg auf einem schmalen Saumpfad, trabte durch den lichten Wald und galoppierte ein Stück an dem Bachlauf entlang, der drunten vor der Stadt in die Unstrut mündete.
Die mächtige Mallinde markierte einen uralten Gerichtsplatz, sie stand unmittelbar neben einem länglichen Felsblock, auf dem magische Zeichen eingeritzt waren, die längst niemand mehr lesen konnte. Es war ein verwunschener Ort; wenn der Wind wehte, schien das Rauschen der Lindenblätter von vergangenen Zeiten zu künden. Man erzählte sich Geschichten über den Ort. Wenn ein Paar, das in wahrer Liebe miteinander verbunden war, den Stein berührte, so hieß es, dann finge er an, in seinem Inneren zu glühen. Raimund hatte es mit Eilika einmal versucht – und tatsächlich, es war ihm, als könnte er durch die raue Oberfläche eine Wärme spüren, die den ganzen Körper wunderbar durchströmte. Raimund dachte daran, wie oft er mit Eilika im Schatten des uralten Baumes im Gras gesessen hatte, den Rücken gegen den Stein gelehnt, über sich das grüne Laubdach. Es waren seine glücklichsten Momente gewesen.
Da vorn schimmerte schon das helle Grün der jungen Lindenblätter. Raimund stieg leise ab; er wollte seine Frau überraschen. Auf Zehenspitzen näherte er sich dem Baum. An ein Gebüsch angebunden graste ein hübscher kleiner Schimmel – aber neben ihm rupfte noch ein Pferd am frischen Grün, ein Brauner mit gestutztem Schweif und Herrensattel. War sie mit jemandem ausgeritten? Mit einem Mann? Raimund spürte, wie eine eisige Hand nach seinem Herzen griff. Doch gleich darauf schalt er sich einen Dummkopf. Natürlich war ihr Vater dabei, oder einer ihrer Brüder. Oder der alte Vargula, der sich den Damen stets als wachsamer Begleiter für Ausritte anbot.
Raimund schlich näher. Unter der Linde war niemand zu sehen, aber dann hörte er Stimmen und leises Gelächter. Die kalte Hand von vorhin war wieder da, sie drückte sein Herz zusammen, unbarmherzig, als wolle sie das letzte Tröpfchen Blut herauspressen. Genauso hatte Eilika oft gelacht, wenn er mit ihr zusammen war. So verführerisch, so glockenhell, so sinnlich. Raimunds Kiefer verkrampften sich. Er musste Gewissheit haben. Zögernd trat er an den Stein heran, ging um ihn herum. Und
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