Die Tore des Himmels
dann sah er sie.
Sie bemerkten ihn nicht einmal, obwohl er eine ganze Weile dastand. Er wusste, er würde dieses Bild nie vergessen: Eilika auf dem Rücken, die Augen geschlossen, die Röcke bis zu den Hüften hochgeschoben, die Beine gespreizt. Der Ausdruck höchster Ekstase auf ihrem Gesicht. Und auf ihr ein Mann, keuchend stieß er in sie hinein, wieder und wieder.
Es traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube. Sie machten ihn zum Hahnrei, am Tag seiner Rückkehr! Schmerz und Wut überfluteten ihn wie eine rotglühende Woge. Raimund schrie, nein, er brüllte wie ein verwundetes Tier.
Das Paar fuhr hoch, Eilika starrte ihn an, als sei er ein Geist. »O Gott«, stieß sie heiser hervor, »o Gott!« Er starrte sie an und konnte nicht mehr denken; etwas zersplitterte in seinem Kopf. Plötzlich hatte er das Schwert in der Hand. Der Mann neben ihr bückte sich und griff nach seinem Dolch, der bei dem Kleiderhaufen im Gras lag. Raimund ging wie ein wilder Stier auf ihn los, wilde, rasende, weißglühende Wut wühlte in seinem Hirn. Mit einem Schrei schlug er seinem Nebenbuhler die Waffe aus der Hand. Der versuchte verzweifelt, sich mit den Fäusten zu verteidigen. Und dann riss Raimund sein Schwert in schräger Linie von unten nach oben. Die scharfe Klinge glitt so leicht durch Haut und Fleisch, er spürte nicht einmal, dass er getroffen hatte.
Albrecht von Bernroda brach in die Knie. Ein Gurgeln kam aus seiner Kehle, dann fiel er ganz langsam nach vorn und stürzte aufs Gesicht. Eilika kreischte wie wahnsinnig, ihre schrille Stimme gellte Raimund in den Ohren. Die Spitze seines Schwerts hatte ihrem Liebhaber den Hals aufgeschlitzt. Blut spritzte im Rhythmus des Herzschlags aus der klaffenden Wunde und färbte die Oberfläche des Runensteins dunkelrot. Sterbend krallte der junge Ritter die Hände ins Gras.
Raimund spürte plötzlich, wie ihn alle Kraft verließ. Die Wut war mit einem Mal verglüht. Er ließ das Schwert sinken und stand einfach nur da, schwer atmend und todesmüd wie nach einer langen Schlacht.
Er hörte den Reitertrupp nicht, der sich in gestrecktem Galopp näherte, nahm die Rufe der Männer nicht wahr. Erst als Rudolf von Vargula ihm sanft das Schwert aus der Hand wand, erwachte er wie aus einem Traum. Der Mundschenk legte ihm den Arm um die Schultern. »Kommt, Herr Raimund«, sagte er leise, »hier ist nichts mehr zu tun.«
Es war ein trauriger Zug, der sich stumm auf die Neuenburg zubewegte. Die Landgräfin hatte das Gesinde aus dem Innenhof verscheuchen lassen; jetzt hingen die Leute an den Fenstern, um ja nichts zu verpassen. Man brachte die Leiche des jungen Bernroda als Erstes herein und trug sie in den unteren Teil der Doppelkapelle. Einer der Männer half Eilika vom Pferd, sie war kaum imstande zu gehen. Zwei Zofen liefen ihr entgegen, um sie in die Frauengemächer zu bringen. Raimund von Kaulberg ließ sich von den Vargula-Brüdern widerstandslos in den Palas führen.
»Ich denke, für Euch ist jetzt gute Zeit, ein Zwiegespräch mit dem Herrgott zu halten«, sagte der ältere Vargula-Bruder, als sie im oberen Stockwerk der Burgkapelle angekommen waren, das direkt unterhalb des Festsaals lag. »Wir warten, bis der Landgraf heute Abend vom Gerichtstag in Mittelstedt zurückkommt.«
Wie betäubt sah sich Raimund in der Kapelle um. Sie musste während seiner Abwesenheit neu gestaltet worden sein. Sein Blick fiel auf die Mittelstütze mit ihren schwarzen Säulen, die sich auch an den Außenwänden wiederfanden. Über sich sah er die buntbemalten Zackenbögen, die ihn an maurische Architektur erinnerten, ähnlich wie er sie im Heiligen Land gesehen hatte. Durch zwei lilienförmige Fenster links und rechts des Altars flutete schräg das Sonnenlicht auf den Balkenboden. Die Stille tat gut. Raimund trat an die rechteckige Öffnung, die es der Landgrafenfamilie ermöglichte, von der oberen Kapelle aus die Messe im unteren Altarraum zu verfolgen. Apathisch beobachtete er, wie zwei Männer die Leiche des Albrecht von Bernroda hereintrugen, vor dem Altar ablegten und mit einem Leintuch bedeckten.
Nun, beim Anblick des Toten, brachen die Gedanken über ihn herein. Was hatte er getan? Wie hatte ihm das geschehen können, ihm, der sonst nie Ruhe und Beherrschung verlor? Noch vor einer Stunde war er zu einem Ungeheuer geworden. Das Böse hatte Gewalt über ihn erlangt, hatte allen Jähzorn, alle Enttäuschung, alle Wut, die ein Mensch je empfinden konnte, in einem einzigen furchtbaren Augenblick
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