Die Tore nach Thulien, Buch I: Dunkle Gassen: Wilderland (German Edition)
gab es nur den Weg über den kleinen Steig und dann würde er sie zwangsläufig entdecken. Nach ein paar Schritten hatte Shachin den Boden der Senke erreicht. Sie hielt sich links und näherte sich der Gestalt von Süden. Leise und jeden Schatten dabei ausnutzend, arbeitete sie sich Schritt für Schritt nach vorne. Dann hatte sie den Soldaten im Profil. Er war noch sehr jung, womöglich knapp über zwanzig Winter alt. Das flachsblonde Haar fiel ihm bis auf die Schultern. Die Hände der kräftigen Arme waren zum Gebet gefaltet, seine Augen geschlossen. Er trug nur schlichte Kleidung und hatte augenscheinlich keine Waffen bei sich. Sie wusste nicht warum, doch würde es ihr Leid tun, müsste sie ihn wirklich den Hauch des Todes spüren lassen. Irgendwo in der Nähe krähte ein Hahn und beim dritten Schrei ging plötzlich ein Ruck durch den jungen Soldaten am Altar. Schwerfällig, vermutlich vom Blutstau durch die unbequeme Haltung behindert, setzte er sich hin. Ein paar Minuten später stand er auf und machte sich schließlich auf den Weg. Nun hatte Shachin die Möglichkeit, den Soldaten genauer zu mustern. Er war groß gewachsen und seine Bewegungen machten trotz der unscheinbaren, einfachen Gewandung unmissverständlich klar, dass er etwas vom Kampf verstand. Sie war froh, dass hier kein Blut mehr fließen musste. Hinzu kam, dass er höchstwahrscheinlich Mitglied der Stadtwache war, vermutlich sogar ein Offizier.
Nachdem sie den Soldat nicht mehr sehen konnte, betrat Shachin die alte Kapelle. Hinter dem Altar ging es noch ein Stück weiter, in eine Art Grotte hinein. Die kleine Höhle war dunkel und von außen nicht zu entdecken. Von innen hingegen hatte man einen guten Überblick auf den Steig und den unmittelbaren Altarraum. Einziger Makel an diesem Unterschlupf war, dass es keinen alternativen Fluchtweg gab. So wie man hinein kam, musste man auch wieder hinaus. Ein Feind, der wusste wo sich sein Opfer befand und noch dazu in der Überzahl war, konnte aus dem vermeintlich guten Versteck schnell eine Todesfalle werden lassen. Shachin wusste das. Und dennoch, bisher war sie der Meinung gewesen, dass es in Leuenburg keines geheimen Fluchtweges bedurfte. Tödlich, wenn sie sich irren sollte.
Die Schattenkriegerin wartete noch ein paar Stunden ab. Sie wollte ganz sichergehen, dass ihr der Meister nicht doch gefolgt war. Stumm und unbeweglich betrachtete sie den Steig und das Vorfeld der Kapelle. Nichts geschah, nicht einmal Gläubige verirrten sich an diesem Tag hierher. Erst nachdem sie sich ganz sicher war, ließ sie sich erschöpft auf ihr Lager sinken. Sofort fiel ein Teil von ihr in einen tiefen, erholsamen Schlaf, der andere hingegen wachte. Genau so, wie sie es in den vielen Jahren ihrer Ausbildung gelernt und auch danach immer und immer wieder praktiziert hatte. Shachin schlief. Sie schlief den Schlaf der Schatten.
Ermittlungen
H auptmann Taris nahm die Sache sehr ernst. Einem Mord in Sieben Schänken musste man nachgehen, keine Frage, doch der Einbruch in die Garnison war erschreckend und gefährlich zugleich, eine Erschütterung der Sicherheit der ganzen Stadt. Ein Angriff auf die Stadtwache, und das war der Einbruch zweifelsfrei, kam einem Angriff auf den Herzog gleich und musste mit aller Härte und Konsequenz verfolgt werden. So etwas hatte es noch nie gegeben und Taris sah sich neben seiner persönlichen Haltung in dieser Angelegenheit auch dazu verpflichtet, die Ermittlungen selbst in die Hand zu nehmen.
Tristan konnte das sehr gut verstehen, aber dennoch wurmte es ihn auch. Der Einbruch mochte ein Angriff auf die Stadtwache gewesen sein und damit auch auf den Herzog, doch in allererster Linie war es ein Akt der Sabotage auf das ihm anvertraute Siedlungsprojekt. Wütend und von der verständnisvollen Art des Hauptmanns nur wenig besänftigt, hatte er sich auf den Weg zur Dunklen Gasse gemacht. Nicht jedoch ohne Wachmann Cutrig vorher noch einige Instruktionen bezüglich der Reise zu geben. Von heute an würde eine Wache rund um die Uhr die Vorratskammer bewachen und eine weitere hatte ein Auge auf den Wagen und die Handwerker. Cutrig stand zwar auf Anordnung des Hauptmanns Tristan zur Verfügung, doch dieser hatte ihm keine Anweisungen gegeben, wie er Cutrig einsetzen sollte. Und wenn es auch nicht im Sinne von Taris war, so musste er nun damit leben, dass Cutrig sich ab heute um die Sicherheit der Reisevorbereitungen kümmern würde und Tristan allein dem Mord in Sieben Schänken nachging. Viel Zeit
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