Die Tore zur Unterwelt 2 - Dunkler Ruhm: Roman (German Edition)
ihr einen finsteren Blick über seine nackte braune Schulter hinweg zu.
»Dieser Kranich war nicht gerade einfach zu falten, weißt du?«, bemerkte er.
Sie schrak zusammen, als ihr plötzlich klar wurde, dass sie immer noch den zerknüllten Papierkranich in der Hand hielt. Sie bemühte sich, die winzige Kreatur wieder einigermaßen zurechtzuziehen, wobei ihr die unnatürliche Glätte des Pergaments auffiel. Papier hatte Falten, das wusste sie, winzige raue Linien. Dieses Papier jedoch schien sogar Charakter zu haben, schien förmlich danach zu gieren, den Pinsel eines Poeten zu empfangen.
Dieses Papier ... schien ihre Berührung fast übelzunehmen.
»Keiner dieser Kraniche kann einfach zu falten gewesen sein«, erwiderte Anacha, stellte den Papierkranich vorsichtig ab und zog ihre Hand mit einer schnellen Bewegung furchtsam zurück, was, wie sie vermutete, ziemlich albern wirkte. »Wie lange bist du schon wach?«
»Seit Stunden«, antwortete Bralston.
Sie warf einen Blick über seinen kahlen Kopf hinweg auf den schwarzen Himmel, der gerade begann, sich blau zu färben.
»Der Morgen graut noch nicht einmal«, meinte sie. »Du wirst immer unleidlich, wenn du nicht genug Schlaf bekommst.«
»Anacha«, er seufzte und ließ die Schultern sinken. »Ich jage abtrünnige Hexer. Ich vertrete das Gesetz der Venarie mit Feuer und Eis, mit Blitzen und Gewalt. Ich werde nicht unleidlich .«
Er lächelte, ohne darauf zu achten, dass sie das Lächeln nicht erwiderte. Sie konnte jetzt nicht lächeln, jedenfalls nicht so, wie sie es in der ersten Nacht getan hatte, in der sie ihn kennenlernte.
»Das ist ein entzückendes Gedicht«, hatte er gesagt, als sie sich vor ihm auf das Bett legte. »Magst du Gedichte? «
Sie hatte mit einem steifen Nicken geantwortet, einem gehorsamen Nicken, wie man es ihr eingebläut hatte. Er hatte gelächelt.
»Was ist dein Lieblingsgedicht ?«
Als sie darauf keine Antwort wusste, hatte er laut gelacht. Sie hatte den Drang verspürt zu lächeln, wenn auch nur deshalb, weil allgemein bekannt war, dass Magier nicht lachten, weil sie pulverisierte Exkremente tranken und das Hirn der Leute aßen, wegen des Wissens, das darin enthalten war.
»Dann werde ich dir Gedichte bringen. Ich komme in einer Woche wieder. « Als er ihren verwirrten Blick bemerkte, rollte er gelassen mit den Schultern. »Meine Pflicht verlangt von mir, dass ich eine Weile Muraska besuche. Weißt du, wo diese Stadt liegt?« Sie schüttelte den Kopf, und er lächelte. »Das ist eine große graue Stadt im Norden. Ich bringe dir ein Buch von dort mit. Würde dir das gefallen? «
Sie nickte. Er lächelte, erhob sich und hüllte sich in seinen Umhang. Sie sah ihm nach, und das Symbol auf seinem Rücken schrumpfte, als er aus der Tür trat. Erst als es nur noch so klein war wie ihr Daumennagel, fand sie ihre Sprache wieder, fragte, ob sie ihn wiedersehen würde. Er war
jedoch bereits verschwunden, und die Tür hatte sich hinter ihm geschlossen.
Und der Drang zu lächeln war damals ebenso erloschen wie jetzt.
»Das ist also ... es gehört zu deiner Arbeit?« Das Zögern in ihrer Stimme war das Einzige, was darauf hindeutete, dass sie die Antwort kannte.
»Es ist Teil meiner Pflichten, allerdings«, verbesserte er sie, als er einen weiteren Papierkranich auf den Boden stellte und ein neues knochenfarbenes Blatt Papier nahm. »Ich nenne sie die Helfer des Bibliothekars. Meine hilfreichen kleinen Schwärme.«
Sie hob den Kranich neben ihr vorsichtig auf, stellte ihn auf ihre Handfläche und blickte in seine gereizten kleinen Augen. Die Farbe war zäh und drang nicht in das Papier ein, wie normale Tinte es hätte tun sollen. Erst als der Geruch von Eisen ihr in Mund und Nase stieg, wurde ihr klar, dass dieses Papier nicht für Tinte gedacht war.
»Du ... das ist ...«, sie keuchte. »Ist das dein Blut?«
»Einiges davon, ja.« Er hob eine winzige Phiole mit einem beeindruckenden Etikett hoch, schüttelte sie und legte sie dann auf einen ziemlich großen Haufen leerer Fläschchen. »Nach der hundertsten Phiole ist es mir ausgegangen. Glücklicherweise wurden mir für diese besondere Pflicht spezielle Privilegien gewährt, einschließlich der Beschaffung einiger zusätzlicher Liter dieser Flüssigkeit.«
Anacha hatte bereits vor langer Zeit gelernt, dass Magier durchaus lachten und nur sehr selten unschöne Dinge mit den Gehirnen derjenigen anstellten, die nicht ihre besonderen Talente besaßen. Über ihre Haltung
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