Die Tore zur Unterwelt 2 - Dunkler Ruhm: Roman (German Edition)
Augen verengten sich.
»Auffassungsgabe, Begleiter. Die Vernunft gewährt uns die Klarheit, Bedrohungen wie auch Potenzial zu erkennen. Das Urteilsvermögen erlaubt uns, so zu handeln, wie wir im Namen der Gesetze handeln müssen. Die Auffassungsgabe schlägt die Brücke zwischen diesen beiden, befähigt zum Erkennen der Lage und zur Auswahl einer angemessenen Reaktion.«
»Wie kann meine Auffassungsgabe in Zweifel stehen?«, antwortete Dreadaeleon. »Habt ihr gesehen, was ich gestern Nacht getan habe? Wer wäre auf die Idee gekommen, einen Häretiker zu vernichten, indem er ihm eine gigantische Seeschlange auf den Kopf fallen lässt?«
Dreadaeleon konnte das kindliche Grinsen zwar nicht sehen, das sich auf seinem Gesicht ausbreitete, aber er nahm es wahr, als er bemerkte, wie sich Bralstons Miene verfinsterte.
»Es geht nicht darum, Eis zu spucken und Feuer zu schleudern«, erklärte der Bibliothekar. »Der Unterschied, ob man sie als Mittel benutzt, um die Gesetze durchzusetzen, oder sie als Mittel zum Zweck benutzt, ist...«
»Auffassungssache?«
»...der Unterschied zwischen einem Mitglied des Venarium und einem Häretiker«, korrigierte ihn Bralston. »Es ist Eure Zeit bei den Abenteurern, die mir Sorgen bereitet. Wie viel habt Ihr getan, um den Gesetzen Geltung zu verschaffen?«
»Ich habe... ich habe sie durchgesetzt.« Dreadaeleon rieb
sich den Nacken. »Ich war immerhin der Erste, der auf die Langgesichter gestoßen ist.«
»Und doch seid Ihr mit anderen Gefährten weitergezogen, statt unverzüglich das Venarium über deren Verletzung der Gesetze zu informieren?«
»Dafür war nicht genug Zeit.«
»Mangel an Zeit ist ein Hindernis für die nicht Erleuchteten. Magier können dieses Handicap nicht für sich in Anspruch nehmen.«
»Aber ich habe so viel getan. Die Fibel, der wir nachjagen, ist...«
»Diese Fibel«, warf Bralston ein. »Ihr sagt, ein Priester hat Euch auf ihre Spur gesetzt?«
»Ja, er hat uns engagiert, damit wir...«
»Gold ist ebenfalls etwas für die nicht Erleuchteten, genau wie religiöser Fanatismus. Wir befassen uns mit höheren Dingen. Venarie ist ebenso unermesslich wie permanent veränderlich. Im Austausch für die Gaben, die wir besitzen, haben wir unser Leben der Erweiterung des Wissens gewidmet, dem Verständnis dafür, wie wir, als Gefäße, dazu in Beziehung stehen. Wie habt Ihr dies betrieben, Begleiter?«
»Ich würde einwenden, dass wir nur verstehen können, in welcher Beziehung das Wissen zu uns steht, indem wir verstehen, wie wir, als Gefäße, zu anderen in Beziehung stehen. Und erst letzte Nacht habe ich herausgefunden...«
»Jede Entdeckung, die in der Gesellschaft dieser Schurken gemacht wurde, ist unausweichlich befleckt von ihren...«
»Hört auf, mich ständig zu unterbrechen.«
Bralston kniff finster die Augen zusammen, doch Draedaeleon blickte zum ersten Mal nicht zu Boden und zuckte auch nicht zusammen. Er erwiderte den Blick des Bibliothekars mit einem finsteren Blick, ließ ihn suchend über das dunkle Gesicht des Mannes gleiten.
»Dieser Punkt ist erheblich zu unbedeutend, als dass ein Bibliothekar sich daran festbeißen würde«, erklärte Dreadaeleon entschieden. »Ich bin schwerlich der erste Magus, der
seine Studien durch Abenteuerreisen erweitert, und ich bin auch sicher, dass ich nicht der letzte sein werde. Und doch tut Ihr so, als würde ich irgendeinen ernsten Bruch des Gesetzes begehen, indem ich mich nur in der Gesellschaft dieser Leute aufhalte.«
Bralston hob eine Braue, und seine Lippen zuckten, als wollte er etwas sagen. Draedaeleon zwang sich, sich nicht von dieser Zurschaustellung von Empörung einschüchtern zu lassen, und hob die Hand. »Ihr habt ein anderes Motiv, Bibliothekar.«
»Seid Ihr sicher?«, erkundigte sich Bralston, in dessen Stimme ein Hauch von Gehässigkeit mitschwang.
»Ich habe eine weit bessere Auffassungsgabe, als Ihr vermutet.«
Trotz des Zorns, der allein in seinem Blick lag, trotz der Enttäuschung und Verzweiflung, die er in dem Jüngling gesehen hatte, war es nur ein kurzer Moment, in dem Bralston die Schultern mit einem Seufzer sinken ließ, nur ein Augenblick, in dem er den Jüngling anders als nur prüfend ansah.
»Ist sie auch gut genug«, flüsterte er, »dass Ihr erkennt, dass Ihr Euch den Zerfall zugezogen habt?«
Mit diesem einen Wort schien sämtliche Entschlossenheit Draedaeleon zu verlassen und alles andere aus ihm herauszureißen, sodass er auf zitternden Beinen stand, die ihn nur
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