Die Tore zur Unterwelt 2 - Dunkler Ruhm: Roman (German Edition)
Anschuldigungen durchbohrten seinen Verstand, Verurteilungen zerrten an seinem Hirn, Bitten schlugen ein Loch in seinen Schädel, in das sich all die hasserfüllten, gewalttätigen
Schreie ergießen konnten. Es war so schrecklich, dass er Flasche und Fackel fallen ließ und auf die Knie sank.
Er hatte seinen Dolch gezückt, und das Flüstern verstummte. Ihm brummte der Schädel, und seine Augen wollten sich schließen. Er bemühte sich, sie offen zu halten, als er den Kopf hob und einen Blick auf das andere Ende der Mauer warf.
Ihm gefror das Blut in den Adern.
Schlanke Finger umklammerten den Rand der Mauer. Die obere Hälfte eines Gesichtes wurde sichtbar, Locken von langem, dunklem Haar umrahmten blasse Wangen, auf denen sich ein breites und entsetzlich unerfreuliches Grinsen abzeichnete. Ein riesiges Auge, ein rundes, wissendes weißes Auge starrte ihn an.
Es starrte in ihn hinein.
»Nein ...«, flüsterte er.
Die Frau erwiderte nichts.
Dann erhob sich das Flüstern erneut, kratzte über seinen Schädel, zwang ihn, die Hände auf die Ohren zu legen und die Augen fest zu schließen. Aber die Worte verklangen wieder, und als er wieder in der Lage war, etwas zu sehen, hinzusehen, war sie verschwunden.
Er stand auf, hob Flasche und Dolch aus dem Sand auf und steckte beides in seinen Gürtel, während er auf die Stelle starrte, wo sie eben noch gewesen war.
Eine Halluzination, sagte er sich. Oder ein Hirngespinst oder beides, hervorgerufen durch unterschiedliche Ursachen, durch Laster, an denen es mir ja nicht mangelt. Paranoia, Trunk, Schlaf losigkeit, ist doch naheliegend, oder?
Er nickte bestätigend.
Was auch immer die Ursache war, wir können uns darauf einigen, dass ... dass sie nicht da war.
Klang wirklich vernünftig.
Und warum folgen wir ihr dann?
Weil Denaos ein vernünftiger Mann ist, sagte er sich , ein einsichtiger Mann, der viele Gründe hat, eine Frau nicht sehen zu
wollen, von der er weiß, dass sie bereits tot ist, und von denen doch keiner überzeugend genug ist, um ihn zur Umkehr zu zwingen.
Er bog um die Ecke der Mauer, und die Landschaft veränderte sich im Lidschlag eines blutunterlaufenen Auges. Wald und Ufer wichen einem gewaltigen Hof: Der großen Steinmauer leisteten noch viele andere Gesellschaft, sie schienen die Bäume über ihnen zu bedrängen und den Sand unter ihnen zu ersticken. Die Wände schmückten Bilder. Mosaike, die unter dem Mantel des Mondlichtes merkwürdig verdreht wirkten, zeigten Gesichter, die er nicht kannte, Götter, denen niemand Namen gegeben hatte.
Dieselben Götter erhoben sich um ihn herum, gewaltige Statuen, die nach dem Mond zu greifen schienen, während sie hoch aufgerichtet über den Hof wachten. Ihre Roben waren aus Stein, und sie hatten die rechten Hände ausgestreckt. Ihre Gesichter waren schon lange verwittert oder auf dem Boden zerborsten, über den sich Nebel wälzte, dessen Tentakel sich erhoben, um trotzig den Mond zu schütteln, während sie versuchten, das Leichentuch abzuwerfen, das er über sie breitete. Der salzige Geruch kratzte in seiner Kehle, verbrannte seine Lungen. Aber darauf konnte er jetzt nicht achten.
Nicht, wo sie in der Mitte des Hofes stand und ihn anstarrte.
Sie trug dasselbe Gewand wie damals, als er sie zuletzt gesehen hatte, ein einfaches Kleid aus fließendem Stoff, das jetzt dieselbe Farbe hatte wie ihre Haut, wodurch ihr Körper und das Kleidungsstück nicht mehr zu unterscheiden waren. Ihr Haar war immer noch dasselbe, zerzaust und zweifellos immer noch nach Straßen und Menschen duftend. Aber er war nicht sicher, ob sie es war, nicht, bis er nicht einen Schritt näher trat.
Nicht, bis sie ihn anlächelte. Zweifach.
Einmal mit ihrem Mund.
»Guten Morgen, mein Großer«, sagte sie plötzlich. Ihre Stimme hatte einen Akzent durch eine Zunge, die keinen Geschmack an Lügen fand.
Er starrte sie an, und Schweigen, schwer wie der Tod, sickerte auf den Hof, legte sich zwischen sie. Als er sprach, schienen die Worte in seinem Mund zu vertrocknen.
»Es tut mir leid«, sagte er.
Sie antwortete nicht.
»Es gab keine Alternative«, sagte er schwächlich. »Ich hatte keine Wahl. Es gab ... Verpflichtungen, Versprechungen.« Er schluckte einen Mundvoll salziger Luft. »Drohungen.«
Sie lächelte einfach nur.
»Aber ... ich habe trotzdem eine Entscheidung getroffen. Ich habe es getan. Was hättest du gemacht?« Er sah alles wie durch einen Schleier, aber es lag nicht am Nebel. Tränen brannten in seinen Augen,
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