Die Tore zur Unterwelt 3 - Verräterische Freunde: Roman (German Edition)
ausbrechen würden, gab es keinen Ort, wohin sie hätten flüchten können.
Außerhalb des Gefängnisses existierten nur Wasser und Finsternis. Und im Wasser und in der Finsternis lauerten Kreaturen, die keine Tränen kannten.
Er konnte aus dem Augenwinkel Irrlichter sehen. Und hörte im Winkel seines Schädels ihr Flüstern, hörte, wie sie sprachen.
SehtWieSieFlehenBettelnKlagen.
WeinenSchluchzenSchreienKreischen.
SprichZuIhnenBeruhigeSieSeiFürSieda IHREW orte IHREW orte.
KeineLügenKeineGötterGarNichts IHREW orte IHREW orte IHREW orteIhreWorte.
Er ignorierte sie, versuchte es jedenfalls. Man musste ihm nicht sagen, was man von ihm erwartete.
Das Flüstern folgte ihm in den Tempel, zu laut, um es zu ignorieren, aber bei Weitem nicht laut genug, um den Lärm der Menschen zu übertönen.
Das Weinen, das Klagen, das Heulen, das Flehen, das Fluchen. Und auch die stummen Menschen. Alle scharten sich zusammen in einem zitternden Meer aus glasigen Augen und klaffenden Mündern, jeder wie ein kleiner Fisch, der dumpf zum Himmel emporstarrte.
Sie schienen ihn nicht zu bemerken, den Mann, der noch vor ein paar Tagen als Nachbar zwischen ihnen umhergegangen war, der Mann, der jetzt als Prophet zu ihnen kam. Ihre Blicke waren auf den Himmel oder auf die bitteren Pfützen unter ihren Füßen gerichtet.
Nur einer machte sich die Mühe, ihn anzusehen, ihm einen bösen Blick zuzuwerfen. Sie waren zwei Männer, die sich noch nie gesehen hatten, geschweige denn sich kannten. Zwei Männer, die nicht mehr als nur ein einziges Wort miteinander teilten.
»Verräter.«
Bei diesem einen Wort blieb der Mund stehen. Er drehte sich herum und erwiderte den bösen Blick des Mannes.
Er riss die Klinge aus seinem Gürtel, packte das schartige Knochenmesser mit einer zitternden Faust und das Revers am schmutzigen Wams des Mannes mit der anderen. Dann riss er ihn hoch, auf die Füße, aus der Traube der Versammelten, die laut wehklagten, als hätte man ihnen allen einen Finger abgeschnitten.
Mitten in dem Wehklagen, dem Geschrei, den vielen, vielen Worten, die der Mann jetzt zu ihm sagte, zerrte der Mund ihn an den Rand des Beckens, an das flüssige Gefängnis.
Das Wasser wogte, pechschwarz. Darin bewegten sich Kreaturen, die noch schwärzer waren als Pech.
Der Mund schob den Mann an den Rand des Beckens, wo er gefährlich schwankte. Der Mann drehte den Kopf, um sein Gesicht dem Mund zuzuwenden, ein Gesicht, das ebenso undeutlich und nutzlos war wie die Gesichter der anderen. Dann sagte er noch ein weiteres Wort.
»Bitte.«
Das Messer bewegte sich mit mechanischer Präzision. Ein Stoß, dann wurde es herausgerissen. Es dauerte nur einen Moment. Dann fiel dieser Mann, aus der durchschnittenen Kehle blutend, in das Becken und verschwand ohne ein Plätschern im Wasser.
Schreie gellten auf, lautes Wehklagen ertönte, Hunderte von Stimmen riefen Hunderte von Namen. Doch niemand rief lauter als der Mund , der seine Hände weit ausgestreckt hatte und sein Gesicht zum Himmel emporhob.
» RETTE IHN !«
Sein Ruf war so merkwürdig, dass ihr Wehklagen zu einem plappernden Murmeln herabsank. Vielleicht wollten sie aber auch nur ihre Schreie für etwas noch Erstaunlicheres aufheben.
»Rette uns, rette auch nur einen von uns!«, rief er erneut zum Himmel empor.
Der Himmel blieb stumm, vergoss weder Blut noch Tränen. Dann sah sich der Mund in dem Schweigen um, drehte sich einmal um sich selbst, als wollte er sich überzeugen, ob er nicht vielleicht etwas übersehen hatte.
»Töte diesen widerlichen Verräter!« Seine Stimme sank mit seinem Blick, und beide schienen über die Menge zu gleiten, die sich vor ihm versammelt hatte. »Lass Gerechtigkeit walten, wie es uns verheißen wurde. Errette uns.« Er ließ seine Arme sinken. »Befreie uns von dem Verräter.«
Er ließ das Messer fallen, das klappernd auf dem Boden landete. Das Geräusch hallte laut durch die Stille, und Blutstropfen spritzten auf den Boden.
»Niemand antwortet«, stellte er fest. »Niemand kommt. Niemand wird uns retten.« Er lächelte, scheinbar verwirrt. »Und ich soll der Verräter sein?«
Jetzt starrten sie ihn an, hatten ihre Blicke vom Himmel losgerissen. Ihre Münder öffneten sich vor Staunen und gaben einen Blick auf die Leere in ihren Köpfen frei.
»Ich bin also der Verräter«, fuhr er fort. »Obwohl ihr gar nicht an mich geglaubt habt. Ich bin der Verräter, und doch habe ich niemals behauptet, euch zu retten. Ich bin der Verräter …« Er
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