Die Tore zur Unterwelt 3 - Verräterische Freunde: Roman (German Edition)
sie solle sich umdrehen und aufhören, ihn anzusehen. Er beobachtete sie. So wie sie ihn beobachtete. Keiner von beiden wandte sich ab.
Nicht, bis sie in der Dunkelheit verschwunden war.
Doch selbst das genügte nicht. Er konnte ihren Blick immer noch spüren, als er sich umdrehte, um sich ihnen zu stellen.
Aber er zwang sich, sich nicht noch einmal umzuwenden und zu versuchen, einen letzten Blick auf sie zu erhaschen. Er zwang sich, nicht wegzusehen, als sie hinter Schleiern aus blauem Licht auf ihn herabblickten. Er zwang sich, ihnen in die Augen zu sehen, in diese schwarzen leeren Scheiben, die wie dunkle Monde über ihren mit nadelscharfen Zähnen gespickten Kiefern hingen, die sich über weiche weibliche Lippen schlossen.
»Du wirst sie in Ruhe lassen«, sagte er tonlos.
ImmerImmerImmerInRuheInRuhe.
Er sah, wie die Lippen zuckten, hörte das Flüstern in seinem Kopf. Er wusste nicht, wer von den beiden redete. Doch das spielte auch keine Rolle.
EinVersprechenEinVersprechenEinVersprechen.
AbgründigeMutterHältIhreVersprechenVersprechen.
DuWeißtWeißtWeißtDasDasDas.
MundMundMundMundMund.
MundMundMundMundMund.
Es klang fast wie ein Wort aus einer Sprache, die er noch nie zuvor gehört hatte. Die Art von grässlich bedeutsamem Geplapper, das er nur in Albträumen und mit fieberheißen Ohren vernommen hatte.
Mund.
Das war jetzt sein Name. Es war sein Name gewesen, seit er sich umgedreht hatte. Hanth war von jetzt an nur noch ein schlechter Traum, ein Wort, an das sie sich noch ein paar atemlose Momente erinnern würde, bevor sie sich zusammenrollte und einschlief.
Hanth sollte eine Gestalt aus ihren Albträumen sein.
Die Welt der Wachenden gehörte dem Mund.
Und der Mund gehörte Ulbecetonth, ebenso wie diese Stadt.
»Bring mich zu ihnen«, befahl er.
Die Sermonika drehte sich langsam herum, presste ihre welken Bäuche auf das Holz, grub ihre dünnen grauen Nägel hinein und zog sich zur Stadt. Ihre Aalschwänze glitten hinter ihr her, und das Licht ihrer blauen Laterne tanzte vor ihnen. Das waren die Engel, die seine Ankunft verkündeten, ihr Flüstern waren die Trompeten, die die Kunde seines Kommens verbreiteten.
Der Mund von Ulbecetonth, Ihr Wille in sterblichem Fleisch, schritt jetzt durch die Ruinen von Port Yonder.
Ruinen war vielleicht doch eine etwas zu dramatische Bezeichnung für die leeren Straßen, die ihn empfingen. Die Gebäude standen unberührt da, bezeugten seine Prozession mit demselben Schweigen, mit dem sie zuvor die schrecklichen Stunden des Massakers bezeugt hatten. Auf den Pflastersteinen lagen keine Leichen mehr, denn solch wertvolle Ressourcen waren schon längst weit praktischeren Zwecken zugeführt worden, als reiner Dekoration zu dienen. Die Menschen und ihre Geräusche, ihre Ängste und Tränen waren verschwunden, und die Steine verrieten nicht, wohin sie gegangen waren.
Der Mund schloss die Augen, als er weiterging und tat, als wäre hier nicht das Geringste vorgefallen.
Das war einfach. Jedenfalls bis ihm ein stechender, kupfriger Geruch in die Nase stieg und er fühlte, wie sein Fuß in einer klebrigen, zähen Pfütze landete. Er zuckte zusammen und zog seinen Fuß zurück. Ein Schmatzen ertönte, das in der Stille laut widerhallte, als würde man ein dickes, nasses Stück Papier langsam in zwei Teile zerreißen.
Dieses Geräusch folgte von jetzt an jedem seiner Schritte.
Es folgte ihm zum Tempel und der Gruppe aus Furcht und bibberndem Fleisch, die sich in den zertrümmerten Mauern versammelt hatte.
Die Bevölkerung von Port Yonder war in diesem ehemaligen Gefängnis zusammengepfercht worden. Und da sein früherer Gefangener geflüchtet war, drängten sie sich jetzt zwischen den klaffenden Löchern in den Mauern, unter dem Himmel aus zerschmetterten Steinen. Es war ein Meer aus Haut und Tränen, das mit jedem Wehklagen zu wogen schien, sich mit jedem Schluchzer kräuselte und mit jedem Flehen zu irgendetwas oder irgendjemandem schaukelte. Flehen zum gottlosen Himmel, zu dem gnadenlosen Stein, zu den Kreaturen, die sie bewachten.
Die Froschwesen schienen das Flehen nicht zu hören. Sie drängten sich in den Rissen und Spalten des zerfallenden Steins, hockten auf zertrümmerten Pfeilern, lauerten in der Dunkelheit und achteten kaum auf ihre Gefangenen. Sie zeigten keine Furcht. Das hätten sie nicht einmal getan, wenn sie in der Lage gewesen wären, ein derartiges Gefühl überhaupt noch zu empfinden. Denn selbst wenn ihre Gefangenen sich auflehnen und
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