Die Tote am Watt
als seine Küche zu Gesicht bekommen würde. Sie liebte doch diese Arbeit und hatte den größten Teil ihres Lebens in der Küche verbracht. Warum sollte sich daran auf Sylt etwas ändern?
Erik freute sich darauf, nach Hause zu kommen und an der Tür zu erschnuppern, was es zu essen geben würde.
5
Carlotta Capella schob die Tür von Käptens Kajüte auf und sah sich um. Ob jemand bemerkte, dass dies ein großer Augenblick ihres Lebens war? Noch nie hatte sie ohne Begleitung ein Restaurant betreten. Die Kaffeebar ihres Dorfes zählte nicht, die hatte sie zwar gelegentlich allein aufgesucht, war aber niemals allein geblieben, sondern hatte nach dem Einkauf auf dem Markt neben anderen Hausfrauen ihren Espresso getrunken. Und die Tatsache, dass Restaurantbesuche ohnehin nicht zu ihrem Leben gehört hatten, war jetzt auch ohne Bedeutung. Was allein zählte, war, dass sie auf Sylt etwas wagte, was ihr in Umbrien nie in den Sinn gekommen wäre: Sie betrat ohne männlichen Schutz ein Restaurant, in dem kein einziger Familienangehöriger sie erwartete. Und dass es sich hier lediglich um eine Imbissstube handelte, tat ebenfalls nichts zur Sache.
Da Mamma Carlotta sich in epochalen Augenblicken wie diesem nicht auch noch um deutsche Vokabeln kümmern konnte, sagte sie, als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel: »Buona sera!«
Der Kopf des Wirts fuhr hoch, und der Gast, der an der kurzen Seite der Theke saß, hob die Nase aus dem Schaum seines Jevers. Obwohl der Schneid sie wie ein kleiner Wirbelsturm über die Schwelle getragen hatte, war Mamma Carlotta nun doch froh, in der schlagartig einsetzenden Flaute ein bekanntes Gesicht zu sehen.
»Moin, Signora.« Fietje Tiensch klopfte auf die Sitzfläche des Stuhls, der neben ihm stand. »War’s schön am Strand?«
»Sì!«, nickte Mamma Carlotta, schob sich auf den hohen Stuhl und rutschte so lange hin und her, bis sie glauben konnte, es länger darauf auszuhalten. »Ma molto freddo!« Sie blickte in Fietjes fragendes Gesicht und stellte fest, dass sie sich wohl fühlte. »Aber sehr kalt«, fügte sie deshalb zufrieden hinzu. Ihre dunklen Augen blitzten, ihre Locken vibrierten, ihre Wangen färbten sich.
Fietje strich sich über den struppigen Bart, seine hellen, klaren Augen musterten Mamma Carlotta freundlich. Wenn auch ihr erster und einziger Flirt, der noch dazu mit einer Hochzeit geendet hatte, schon vierzig Jahre zurücklag, so erkannte sie doch in diesem Moment, dass Fietje mal ein attraktiver Mann gewesen sein musste, der sicherlich manches Frauenherz gebrochen hatte.
»Ein besonders gut gekühltes Jever für die Signora«, rief Fietje dem Wirt zu.
»No, no«, wehrte Mamma Carlotta ab. »Ich bin gekommen, weil es italienischen Rotwein gibt. Aus Montepulciano.«
»Montepul…« Fietje hatte es schon vor langer Zeit aufgegeben, sich an Unmöglichem zu versuchen. »Ist das da, wo Sie herkommen?«
»Sie stammen aus der Toskana?«, mischte sich der Wirt ein und ließ seine Frischfrikadellen im Stich. »Ich bin mal in Piombino an Land gegangen.«
»Sie sind zur See gefahren?«, fragte Mamma Carlotta mit großen Augen und erinnerte sich dann an die Frage. »Nein, ich komme aus Umbrien.«
Der Wirt gehörte zu denen, die lieber von sich redeten, als den Erzählungen anderer zu lauschen. »Nachdem mein letzter Kahn vor Gibraltar sank, habe ich mein Kapitänspatent zurückgegeben«, erklärte er, »und bin auf Sylt zur Landratte geworden. Sie dürfen Käpten Tove zu mir sagen, Signora.«
»Und zu mir Prinz Fietje«, knurrte der Strandwärter. »Glauben Sie Tove kein Wort, Signora.«
Mamma Carlotta war es gleichgültig, ob sie einen leibhaftigen oder einen vermeintlichen Kapitän vor sich hatte. Sie beschloss, die Gunst der Stunde zu nutzen und diesen beiden Syltern zu erzählen, was in ihrem Dorf leider schon jeder wusste. Dass ihr Wortschatz für viele Einzelheiten nicht ausreichte, war nicht weiter wichtig. Carlotta Capella hatte sich nie auf ihre Stimme beschränkt, wenn es ums Erzählen ging, ihr ganzer Körper erzählte mit, ihre Gesten, ihre Mimik, ihre Augen.
Noch bevor Tove Griess den Rotwein aus Montepulciano in seinem Vorratsraum gefunden hatte, erfuhr er, dass Mamma Carlotta in vierzig Ehejahren sieben Kinder geboren und ihren Ehemann bis zu seinem Tode gepflegt hatte. Tove verkaufte ein gutes Dutzend Fischfrikadellen, während ihm erzählt wurde, dass Guido, der älteste Sohn, ein Fuhrgeschäft betrieb, und Fietje konsumierte drei weitere Jever und einen
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