Die Tote auf dem Opferstein: Kriminalroman
gewickelt, und der Hauch von verfaultem Fleisch wurde vom Wind verweht. Er hob die Kiste in die Höhe und senkte sie wieder in Richtung Erde, zur Urmutter und dem unterirdischen Reich. Hier waren sie nun alle versammelt. Ihre schwarzen Seelen würden von der höheren Macht verurteilt werden. Und er hatte seinen Teil dazu beigetragen.
Aus einem schwarzen Lederbeutel nahm er eine Handvoll Bilsenkrautsamen und warf sie auf den Holzhaufen. Nun war es so weit. Er drehte sich zu Marianne um. Sie würde keine weitere Spritze brauchen. Wenn er ihr nochmehr verabreichte, würde sie einschlafen, und das wollte er nicht. Er wollte sie nur gefügig machen. Bewegungsunfähig.
Kein Stern war am dunklen Himmel zu sehen. Graue Wolkenfetzen rasten vorüber. Er führte Marianne zum Scheiterhaufen und die Leiter hinauf. Er selbst stieg hinter ihr her, fesselte ihre Hände an den Pfahl und stellte den Seelenschrein vor ihren Füßen ab. Der Wind nahm zu und peitschte Schaumkronen in die südliche Hafeneinfahrt. Die heimtückischen Schären vor Marstrand zermalmten die Gischt. Plötzlich öffnete sich die Wolkendecke, und der Vollmond kam zum Vorschein.
Gut Nygård, Herbst 2009
Die Kraft, die Kristian so lange von sich ferngehalten hatte, übermannte ihn nun mit voller Wucht. Er entspannte sich, öffnete seine Sinne und begriff, dass er die ganze Zeit auf diesen Augenblick hingelebt hatte. Er erinnerte sich an die Worte, die Asko vor langer Zeit gesagt hatte: »Und was ist mit mir? Welche Bedeutung hat meine Herkunft?« Er wusste auch noch, was er geantwortet hatte. »Man kann die Verbindung kappen, kann sich aus dem Netz des Schicksals befreien.« »Aber wie?«, hatte Asko gefragt. Ich werde dir helfen, hatte Kristian gedacht.
Asko erholte sich nicht von Ainas und Birgers Tod, er kam nicht so schnell auf die Beine, wie Kristian sich das vorgestellt hatte. Das Opfer war offenbar nicht groß genug gewesen. Es reichte noch nicht. Alle Fäden mussten durchschnitten werden, damit Asko frei sein konnte.
Am sichersten war es, die Seelen einzusammeln und zu verbrennen. Dass sie herumirrten wie die alten Seelen
auf Nygård und die Lebenden störten, war das Letzte, was er wollte.
Als er Marianne vom Flughafen in Landvetter abholte, war ihm klar, dass das letzte Hindernis für Askos Gesundung direkt vor ihm stand. Sie hatte die Kraft, das wusste er. Sie war die Gefährlichste von allen. Er dachte an diesen Sommer zurück, in dem Mariannes Großeltern an einer Kohlenmonoxidvergiftung verunglückt waren und sie noch einmal davongekommen war. Wie durch ein Wunder hatte sich das giftige Gas von Marianne ferngehalten – oder hatte es ihr nichts anhaben können? Sie hatte seine Sinne getrübt. Asko würde es verstehen. Schließlich tat er es für ihn.
Seit Folke, Sara und Robban sich auf den Weg gemacht hatten, war die Stimmung an Bord der
Andante
gedrückt.
Johan warf einen skeptischen Blick auf das Display, bevor er sich meldete und das Handy an Karin weiterreichte.
»Für dich«, sagte er.
Karin griff nach dem Telefon und hörte die vertraute Stimme von Anders Bielke.
»Schöne Grüße von uns Süßwasserpiraten. Sagt ihr da unten das nicht immer zu uns?«
Karin räusperte sich, um ihre Stimme und den Husten unter Kontrolle zu bringen. Johan reichte ihr eine Halspastille.
»Ich bin so erkältet, dass ich momentan fast gar nichts sage.«
»Das höre ich, aber was ich zu erzählen habe, wird dich schon aufmuntern. Ich befinde mich auf Gut Nygård, einem Schloss nördlich von Trollhättan. Carsten Heed hat mich hierhergeschickt. Das Anwesen gehört einem Kristian Wester, der allerdings nicht zu Hause ist.«
Karin hielt erwartungsvoll die Luft an.
»Und?«, flüsterte sie.
»Wir haben den Kopf gefunden, euren Kopf. Jedenfalls hoffe ich wirklich, dass es euer Kopf ist. Ansonsten hätten wir es mit noch einem Mord zu tun, und ich wage gar nicht darüber nachzudenken, was das bedeuten würde. Wie bei allen anderen fehlt die Nase. Unser Rechtsmediziner kommt gerade, wir werden gleich wissen, was er dazu sagt. Der Kopf befand sich in einer Gefriertruhe im Keller.«
»Scheint, als wärt ihr am richtigen Ort«, sagte Karin.
»Ja, sieht so aus, aber ich wollte dich etwas anderes fragen. Im Schloss gibt es eine Bibliothek, in der Kristian offenbar in letzter Zeit gewohnt hat. Wenn man sich seine Aufzeichnungen ansieht, gewinnt man den Eindruck, dass er nicht ganz gesund ist, und das ist noch milde ausgedrückt. Über jedes Opfer hat er
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