Die Tote auf dem Opferstein: Kriminalroman
an jeder Hand ein Kind, ich glaube, sie hat einen Jungen und ein Mädchen bei sich. Zuerst hockt sie sich hin und umarmt die beiden zärtlich. Dann wendet sie sich ab und geht durch diese Wand dort. Die Kinder folgen ihr nicht, sondern bleiben hier. Das Mädchen weint, und der Junge nimmt seine Hand und tröstet es.« Georg zog ein Taschentuch aus der Hosentasche. Er putzte sich die Nase und räusperte sich. »Sie sehen aus wie Lichtgestalten mit unscharfen Umrissen, aber in letzter Zeit empfinde ich sie immer deutlicher, aber vielleicht geht da nur meine Phantasie mit mir durch«, murmelte er.
Der letzte Satz klang wie eine Entschuldigung. Sara war mucksmäuschenstill geworden.
»Ist das wahr?«, fragte sie schließlich. »Das muss ein großartiges Erlebnis gewesen sein.« Sie kannte Georg gut genug, um zu wissen, dass ihm seine Phantasie bestimmt keinen Streich gespielt hatte.
»Ich habe lange nach den Originalgrundrissen des Hauses gesucht, sowohl in schwedischen als auch in dänischen Archiven, aber es war alles vergebens. Das Haus ist ja von den Dänen erbaut worden«, erläuterte er. Sara nickte. »Eines Abends konnte ich mich nicht länger beherrschen. Ich klopfte den Putz von der Wand, weil ich endlich wissen wollte, was sich darunter befand. Da zeigte sich, dass an der Stelle, wo die Frau immer in der Wand verschwindet, früher eine Tür war. Durch diese Tür kam man vom Hof hier herein. Alle fragten sich, woher ich das gewusst hatte. Ich musste mir einiges einfallen lassen, um das zu erklären, aber kurz darauf trafen Gott sei Dank die Grundrisse aus Kopenhagen ein, und von da an konnte ich auf die verweisen.«
Sara wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie strich mit der Hand über die Schieferplatten auf dem Fußboden und betrachtete dann die Wand, auf die Georg gezeigt hatte.
»Ich habe immer gedacht, es könnte vielleicht Malin im Winkel sein, die sich von ihren Kindern losreißen muss. Wahrscheinlich ist das einer der Gründe, warum ich diese Ausstellung über die Hexenprozesse konzipiert habe. Einerseits möchte ich die dunklen Seiten der Stadtgeschichte ans Licht bringen, aber ich möchte auch Malin im Winkel und die anderen tüchtigen Frauen würdigen, erzählen, was ihnen angetan wurde, und ihren Seelen vielleicht Frieden schenken.«
Frieden, dachte Sara. Eins der schönsten Wörter, die sie kannte.
»Das ist ein guter Gedanke.« Sie strich Georg über den Arm. Eine Weile standen sie schweigend da, als empfänden sie Ehrfurcht vor Malin im Winkel und ihren Schwestern.
Sara dachte an Diana und deren Kinder, die bei ihr zu Besuch waren.
»Ich muss nach Hause. Tomas’ große Schwester ist da, Diane.«
»Ja, die Tochter von Siri.« Georg runzelte die Stirn. »Nach all dem, was im Frühjahr passiert ist, können die letzten Monate für dich und Tomas keine leichte Zeit gewesen sein.«
»Nein, es war hart.« Sara schüttelte den Kopf. »Du hast nicht zufällig etwas ganz Dringendes zu erledigen und brauchst Hilfe? Vielleicht eine große Kiste mit alten Feuersteinen, die unbedingt sortiert werden müssen?«
Georg lachte.
»Leider nicht.« Er umarmte sie zum Abschied. »Falls mir etwas einfällt, rufe ich dich an.«
Karin hatte gerade eine Einladung zum Kaffee bei Lycke angenommen und sich auf den Weg zum Fyrmästargången gemacht, als ihr Handy erneut klingelte.
»Tja, Karin«, sagte Rechtsmedizinerin Margareta Rylander-Lilja, »war der Urlaub schön? Jerker hat mir erzählt, dass du schon wieder arbeitest, obwohl dein Dienst eigentlich erst morgen beginnt.«
»Hallo, Margareta.«
»Da du laut Jerker ohnehin wieder da bist, kann ich auch gleich dich anrufen, dachte ich mir. Ich werde morgen früh meinen Bericht abliefern, wollte aber gern mit dir persönlich sprechen. Wenn es möglich ist, jetzt sofort.« Sie wartete Karins Reaktion ab.
»Klar.« Karin setzte sich auf eine Bank mit Meerblick.
»Ich bin gerade mit der Obduktion fertig geworden und werde gleich das Protokoll schreiben, wollte dir meine Meinung aber gerne mündlich mitteilen.«
»Wunderbar.« Karin durchwühlte ihre Taschen nach Stift und Papier. Andererseits würde sie das Ganze sowieso per E-Mail bekommen. Plötzlich fiel ihr ein, was sie auf der CD-ROM mit den Häusern auf Marstrandsön über das Haus von Frau Wilson gelesen hatte.
»Übrigens, Margareta, Kohlenstoffmonoxidintoxikation«, sagte Karin schnell. »Was ist das?«
»Darauf komme ich gleich zu sprechen«, erwiderte Margareta, »aber wie hast du das
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