Die Tote auf dem Opferstein: Kriminalroman
Händchen, um ihm ein bisschen Wärme zu schenken und dem dünnen Körper in dem Bett Kraft zu geben.
Der Arzt, der sie aufgenommen hatte, war entsetzt gewesen, kannte Birger aber Gott sei Dank noch von dessen gefährlicher Begegnung mit einem wilden Stier. Bei der Erinnerung an seinen damaligen Besuch im Krankenhaus musste er lächeln. Es war knapp gewesen. Der Arzt hatte damals gerade sein Examen hinter sich, und seitdem hatten sie sich nicht mehr gesehen.
Nachdem man sich um den Jungen gekümmert hatte, setzten die beiden sich in Ruhe hin. Birger erzählte, was passiert war. Natürlich mussten auch die Polizei und das Jugendamt eingeschaltet werden. Birger sah auf die Uhr. Es war früh am Morgen. Aina war zu Hause geblieben, um zu melken. Eigene Kinder hatten sie nie bekommen, und er bekam den Gedanken nicht aus dem Kopf, den Jungen bei sich aufzunehmen. Gleichzeitig war ihm klar,
dass das nicht möglich war. Es war keine gute Lösung, wenn der Junge in der Nähe seines alten Zuhauses blieb.
Um Punkt acht erschien die Dame vom Jugendamt. Sie war um die fünfzig und hatte die Haare zu einer Bananenfrisur hochgesteckt. Sie machte ein ernstes Gesicht, aber die Falten rings um ihren Mund bewiesen, dass sie oft lächelte. Sie hat Ähnlichkeit mit Aina, dachte Birger, während er den selbstgestrickten Pullover und den Rock musterte. Die Frau schüttelte den Kopf, als sie den Jungen sah. Das große Krankenhausbett und die weiße Klinikwäsche ließen ihn wahrscheinlich noch etwas kleiner und blasser wirken. Die roten und blauen Flecke standen in scharfem Kontrast zu der hellen Haut.
»Ich habe ja schon viel erlebt, aber wie kann man bloß …« Sie beendete den Satz nicht. Birger wusste auch so, was sie meinte.
An diesem Nachmittag saßen Birger, der Arzt, die Dame vom Jugendamt und die Polizei vier Stunden zusammen, um Klarheit in das zu bringen, was dem Jungen angetan worden war. Einem Jungen, der offenbar so unwichtig war, dass man ihm nicht einmal einen Namen gegeben hatte. Die Frau vom Jugendamt erstattete Anzeige, und die Polizei begann mit den Ermittlungen. Noch am selben Tag wollte man mit der Familie in Kontakt treten. Birger fand, dass das Wort Familie in diesem Zusammenhang wie blanker Hohn klang. Er hoffte wirklich, dass die Verantwortlichen die Folgen ihrer Tat zu spüren bekamen.
Sara und Tomas hatten gerade die Haustür abgeschlossen und stiefelten los zur Fähre. Die Kinder hatten sich dem Spaziergang anfangs lautstark widersetzt, aber als sie ersteinmal unterwegs waren, verstummte der Protest. Wie üblich erreichten sie nicht die Fähre um zehn Uhr sieben, die sie eigentlich nehmen wollten, und Sara musste sich mühsam beherrschen, um die Familie nicht im Laufschritt zum Anleger zu scheuchen.
»Müssen wir uns beeilen, Mama? Haben wir es eilig?« Linus warf Sara einen besorgten Blick zu. Also biss sie tapfer die Zähne zusammen und ermahnte sich selbst zur Ruhe. Ich darf meinen Stress nicht auf die Kinder übertragen, sagte sie sich.
»Nein, Liebling. Heute wollen wir es einfach nur nett haben. Wir nehmen eben die nächste Fähre.«
Tomas sah sie an.
»Hast du irgendwelche Kekse oder Brötchen eingepackt?«, fragte er.
»Nein«, erwiderte Sara. »Du? Ich habe eine Thermosflasche Kaffee für uns und etwas zu trinken für die Kinder dabei.«
»Kekse? Ich will einen Keks!« Linnéa sah Sara flehentlich an.
»Wir haben aber keine. Vielleicht können wir welche im Laden kaufen, während wir auf die nächste Fähre warten. Oder wir gehen zu Bergs Konditorei.«
Linnéa strahlte. »Zimtschnecken, wir kriegen Zimtschnecken«, trällerte sie und hopste fröhlich über das Kopfsteinpflaster.
Donnernd legte die Fähre auf Marstrandsön an, und Tomas lief am Kai entlang zu Bergs und holte Gebäck. Sara bog stattdessen mit den Kindern nach links ab und ging am Strandverket vorbei zu den Badestellen auf der Südseite der Insel. Sie hatten gerade das alte Munitionslager erreicht, als Tomas sie einholte. Sara hockte sich neben die Kinder und zeigte auf das gelbe Gebäude.
»Wisst ihr – früher hat man in diesem Haus Pulver aufbewahrt.«
»Was ist das denn?«
»Schießpulver – das hatten die Piraten in ihren Pistolen, und oben auf der Festung haben sie damit ihre Kanonen abgefeuert.«
Sara drehte sich lächelnd zu Tomas um.
»Hier gehen Massen von Menschen spazieren. Wie viele von denen wissen wohl, dass sie gerade am alten Pulverhaus vorbeikommen?«
»Besonders viele werden es nicht sein.
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