Die Tote auf dem Opferstein: Kriminalroman
Ein anheimelnder, sanfter Schein reichte vom großen Haus über das Gästehaus, in dem einst der Gärtner gewohnt hatte, bis zum Bootshäuschen am Fuße des Stegs.
Eine Weile blieb er im Auto sitzen und genoss es einfach, hier zu sein. Die Digitalanzeige der Uhr stand auf 23:04, als er den Zündschlüssel aus dem Schloss zog. Daran würde er sich später erinnern. Die Luft war schwül und gesättigt, und über den Nachthimmel jagten dunkle Wolken.
Das Gepäck stellte er auf dem Steinfußboden im Eingangsbereich ab. Der Bootshausschlüssel hing an einem Haken in dem handbemalten norwegischen Eckschrank, den Marianne vor sieben Jahren zum fünfzigsten Geburtstagbekommen hatte. Mit dem Schlüssel in der Hand nahm er sich nach kurzem Zögern ein kaltes Bier aus dem Kühlschrank. Er trank einen Schluck und nickte sich im Spiegel selbst zu. So müsste es immer sein. Nur Marianne fehlte ihm. Noch hatte er die Tote im Wohnzimmer nicht bemerkt.
Draußen auf dem Steg riss der Wind ihm beinahe den Liegestuhl aus der Hand, und Asko beschloss, sich einen etwas massiveren Stuhl aus Teakholz zu holen. Sogar die Bootshaken, die immer an der Wand hingen, waren herabgefallen. Er verstand nicht, wie das möglich gewesen war, und hängte sie wieder auf. Sicherheitshalber umwickelte er beide Haken mit einem Tampen und knotete sie mit einem Webeleinenstek fest. Dann setzte er sich in den Windschatten des Bootshauses und betrachtete fasziniert, wie die Schaumkronen von den Wellenkämmen weggeweht wurden. Da er den Gast nicht hatte kommen hören, ließ er vor Schreck seine Bierflasche fallen. Mit einem dumpfen Platschen verschwand sie im schwarzen Wasser.
»Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken, aber ich war gerade eine Runde joggen, und da habe ich dein Auto gesehen.«
»Mensch, Kristian. Ich habe dich nicht kommen hören, in diesem Sturm kann man ja sein eigenes Wort nicht verstehen.«
»Wolltest du nicht im Maritime übernachten?«, fragte Kristian.
»Ich habe es mir anders überlegt.«
Schwere Regentropfen fielen vom Himmel und bildeten große Flecken auf den ausgetrockneten Stegbrettern.
»Komm mit rein, ich lade dich auf ein Bier ein, falls dein asketischer Lebenswandel das erlaubt«, sagte er und schloss das Bootshaus ab.
Kristian zog sich im Eingangsbereich die Laufschuhe aus, als er Askos Schrei hörte. Mit einem Fuß auf Socken stolperte er über die Schnürsenkel des linken Turnschuhs und rannte zu seinem Freund, der die Hand auf die linke Seite seiner Brust gelegt hatte und atemlos am Türrahmen lehnte. Die andere Hand zeigte zitternd auf die Frau, die in einem Lichtkreis auf dem dunklen Holzboden lag. Ein Blitz erhellte mit seiner durchdringenden Helligkeit den Raum, wenige Sekunden später hallte der Donnerschlag von den Felsen wider, die das Haus umgaben.
»Mein Gott«, flüsterte Kristian.
»Ist sie … lebt sie noch?« Asko war weiß im Gesicht, und seine Lippen hatten einen bläulichen Schimmer.
Da der Strom ausgefallen war, stammte die einzige Beleuchtung von den Teelichtern, die rings um die Frau flackerten. Kristian ging langsam zu ihr, stieg vorsichtig über die Kerzen und kniete sich neben sie. Geübt tastete er am Hals der Frau nach ihrem Puls. Dann drehte er sich kopfschüttelnd zu Asko um.
»Sie ist tot. Ganz kalt.«
Asko antwortete nicht. In sich zusammengesackt, lehnte er an der Wand.
»Die Polizei.« Asko räusperte sich und wiederholte mit festerer Stimme. »Wir müssen die Polizei rufen.« Mühsam erhob er sich, um zum Telefon zu gehen. Erst dann fiel ihm das Handy in seiner Hosentasche ein. Mit zitternden Fingern tippte er den Notruf ein, während er sich mit der anderen Hand an der Wand abstützte und sich schwerfällig in einen Sessel fallen ließ. Draußen prasselte der Regen auf das grüne Blechdach über der Veranda.
Karin hatte den Wetterbericht vom DMI, dem Dänischen Meteorologischen Institut, gehört und anschließend die Vertäuung der
Andante
kontrolliert. Bug- und Heckleine,eine Vorder- und eine Achterspring. Der Wind hatte allmählich aufgefrischt. Im Hafen schlugen die Großsegelfallen gegen die Masten, und der Wind zerrte unheilverkündend an den Takelagen. Karin empfand eine Art Hassliebe zu diesem Geräusch. Es ging immer einher mit der Sorge, dass die Vertäuung nicht halten könnte, und war mit der bangen Frage verbunden, ob der nächtliche Hafen wirklich eine gute Wahl war. Ob sie ruhig schlafen würde oder noch einmal aufstehen und das Boot neu vertäuen
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