Die Tote im Badehaus
Hämatome hatte. Die Zähne waren intakt, die Zunge war nicht verletzt.«
Sie hatte sich also nicht in die Zunge gebissen oder sie gepierct, notierte ich und dachte an Richard.
»Eine Untersuchung der Beckengegend ergab, daß sie schon eine Geburt hinter sich hatte, und man konnte eine gut abgeheilte Tubenligatur erkennen.«
Ich war verblüfft. »Das kann nicht sein. Sie hat gesagt, sie hätte keine Kinder!«
»Die Menschen lügen. Der Körper kann das nicht.« Tom sah mich bedeutungsvoll an. »Der Gerichtsmediziner hat danach toxikologische Tests durchgeführt. In dreißig Kubikzentimetern Blut aus der linken Herzkammer betrug der Blutalkoholspiegel 1,05 Promille.«
»Die Polizei hat behauptet, sie sei extrem betrunken gewesen und im Schnee ohnmächtig geworden.«
Tom schüttelte den Kopf. »Wenn sie Auto gefahren und von der Polizei angehalten worden wäre, dann wäre ein Alkoholtest wahrscheinlich positiv ausgefallen. Aber bei dem geringen Blutalkoholspiegel wäre sie nicht betrunken umgefallen.«
»Sie wirkte auf mich voll und ganz bei Sinnen, als ich an dem Abend nach dem Essen mit ihr gesprochen habe. Sie hatte ein wenig Sake getrunken.« Es gab mir einen kleinen Stich, als mir wieder einfiel, wie zeremoniell sie Hugh den Reiswein eingeschenkt hatte.
»In ihrer Lunge waren achtzehn Kubikzentimeter Wasser. Der Gerichtsmediziner hat das offenbar für geschmolzenen Schnee gehalten.«
Ich dagegen dachte an das Bad. »Warte. Wenn jemand mit Gewalt unter Wasser gedrückt wird, wieviel Wasser wäre dann in seiner Lunge?«
»Nicht viel, da sich der Hals gegen Fremdkörper verschließt. Ertrunkene haben meistens zwanzig oder weniger Kubikzentimeter in der Lunge.« Tom gab mir die Blätter zurück. »Sie hätten Leber und Nieren noch überprüfen sollen. Das finde ich unerhört. Sie haben alles im Schnellverfahren erledigt, neb?«
Über so langweilige Dinge wie Leber und Nieren wollte ich nicht diskutieren. »Kann es Körperverletzung gewesen sein? Du hast Hämatome hinter den Ohren erwähnt.«
»Das könnte daher kommen, daß das Blut in den Hinterkopf geflossen ist, weil sie lag, und so die blauen Flecken verursacht hat.«
»Das Wasser im Bad enthielt ganz bestimmte Mineralien«, überlegte ich. »Warum haben sie das nicht überprüft? Dann wüßten sie, ob es Schnee war …«
»Für sie war es wahrscheinlich ein klarer Fall.« Tom sah mich an. »Erzählst du mir jetzt, weshalb du überhaupt im Besitz einer Kopie dieses Berichts bist?«
Ich zögerte. »Das kann ich dir nicht sagen. Es ist vertraulich.«
»Aber hier geht es um Setsuko Nakamura, die Frau, die während der letzten drei Tage in allen Zeitungen war. Wie bist du an diesen Autopsiebericht gekommen?«
»Ich helfe einem Freund von mir. Wir haben die Theorie, daß sie von ihrem Ehemann ertränkt wurde. Was du mir über die Autopsie erzählt hast, zeigt, daß er ganz sicher die Zeit dazu hatte.«
»Vielleicht hatte er die Zeit dazu. Nichts an der Autopsie ist hieb- und stichfest, Rei.«
»Was soll das heißen?«
Tom stupste mich am Kinn. »Die forensische Medizin kann keine hundertprozentigen Antworten liefern.«
»Was soll dann das Ganze?« Ich verbarg meine Verzweiflung nicht.
»Hör zu, Kusinchen. Die Frau ist zwischen vier und sechs Stunden nach dem Abendessen gestorben – niemand kann das genau sagen. Das Wasser war vielleicht Schnee, vielleicht stammte es auch aus dem Bad. Und sie hatte vielleicht eine Kopfverletzung, vielleicht aber auch nicht.«
»Okay«, sagte ich und erhob mich zum Gehen. »Vielleicht« war nicht so gut wie »ganz sicher«, aber es war zumindest ein Schritt in die richtige Richtung. Jetzt wußte ich auch, daß sie ein Kind gehabt hatte.
»Ich bin dir wirklich dankbar, Tom«, begann ich. »Du hast etwas gut bei mir.«
»Das geht schon in Ordnung.« Er deutete auf die Blätter, die ich wegsteckte. »Was machst du jetzt damit?«
»Ich gebe den Autopsiebericht meinem Freund zurück. Der Fall ist abgeschlossen«, sagte ich und wünschte, ich könnte es glauben.
Ich nahm drei gebogene Pflaumenzweige mit nach Hause und arrangierte sie in einer angeschlagenen Satsumavase, die ich vor einem Monat aus dem überdimensionalen Müllcontainer hier im Viertel gerettet hatte. Auch mit Blumen war meine Wohnung nur ein Loch verglichen mit Tante Nories Haus. Kimonos und Holzdrucke konnten die Elektroleitungen nicht verbergen, die wie ein häßliches Spinnennetz an den Wänden hingen, und es gab keine Möglichkeit, über den
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