Die Tote im Badehaus
uralten Linoleumboden hinwegzutäuschen. Das ganze Desaster wurde komplettiert durch die mit Büchern und Krimskrams von Schreinen überquellenden Pappkartons sowie meine armselige Garderobe, die ich auf einer kurzen Leine an einer Wand entlang aufgehängt hatte. Kein Wunder, daß sich meine Mutter weigerte, bei mir zu wohnen.
Ich schob den kotatsu-Tisch an die Wand, um meinen Futon auszurollen. Ich legte mich hin und nahm mir die Notizen zum Autopsiebericht noch einmal vor. Hätte ich Setsuko doch nur genauer angesehen, als ich sie gefunden hatte. Ich konnte mich nur an eine schneebedeckte Gestalt erinnern, und an ihr langes, schwarzes Haar, das steif gefroren war wie ein Stück Rinde. Ihr Haar. Als ich daran dachte, fiel mir plötzlich eine neue Frage ein.
Tante Norie sagte, Tom sei ins Krankenhaus gefahren. Die Telefonistin im St. Luke’s gab mir die Auskunft, er sei im Moment nicht zu sprechen. Unruhig klopfte ich mit dem Stift auf den Tisch und dachte nach. Morgen mußte ich wieder arbeiten. Ich mußte das Problem unbedingt lösen.
Dreißig Minuten später stand ich vor dem St. Luke’s, dem eleganten, sandfarbenen Gebäude, das vielleicht das luxuriöseste Krankenhaus in Japan war. Das St. Luke’s war 1900 von einem amerikanischen Arzt gegründet worden, und diese Tatsache hatte es im Zweiten Weltkrieg vor den amerikanischen Bomben geschützt. Nach dem Gasanschlag in der U-Bahn durch Mitglieder der Aum-Shinrikyo-Sekte wurde das Krankenhaus 1995 wieder zum Zufluchtsort. Fünf Sektenangehörige hatten in mehreren Pendlerzügen Behälter mit Nervengas abgestellt und Löcher hineingebohrt; als das Gas ausströmte, rannten die Leute halbblind und krank aus den Zügen.
Elf Menschen starben und etwa dreitausendachthundert wurden verletzt. Viele davon gingen ins St. Luke’s. Tom war an jenem Morgen Leiter der Notaufnahme. Das Erstaunlichste, wie er mir später erzählte, war die stoische Ruhe der Opfer. Niemand schrie, alle warteten geduldig, bis sie an der Reihe waren.
Im Gegensatz zu mir. Ich rauschte in die Notaufnahme, reichte der Oberschwester meine Karte und verlangte, sofort Dr. Shimura zu sprechen. Kurz darauf tauchte mein Cousin aus einem durch Vorhänge abgetrennten Bereich auf. Er trug einen weißen Kittel und machte ein ärgerliches Gesicht.
»Nur fünf Minuten«, bat ich. »Ich möchte noch etwas über Hämatome wissen.«
»Wenn ich nicht mitkomme, kriege ich dich nie los.« Tom seufzte und führte mich in die Krankenhauscafeteria, einen fröhlichen blau-gelben Raum, der mit pseudogriechischen Säulen geschmückt war. Mehrere Krankenschwestern warfen meinem Cousin sehnsüchtige Blicke zu. Er schien es nicht zu bemerken.
»Du willst also mehr über blaue Flecken wissen.« Tom spritzte Sahne in eine kleine Tasse Kaffee. »Wenn Adern platzen, fließt Blut ins Gewebe.«
»Und Blut fließt doch immer nach unten, nach dem Gesetz der Schwerkraft.«
»Sicher.« Tom drehte seine Armbanduhr, um unauffällig nachsehen zu können, wie spät es war.
»Dann kann sie unmöglich eines natürlichen Todes gestorben sein.« Ich sprach unwillkürlich lauter, und die Schwestern wandten sich wieder zu uns um. »Als ich sie gefunden habe, lag sie mit dem Gesicht nach unten. Da bin ich mir ganz sicher, weil ihr die Haare übers Gesicht gefallen waren.«
Toms Pieper meldete sich. Er klipste ihn ab und sah nach, welche Nummer angezeigt wurde.
»Sie hätte keine blauen Flecken am Hinterkopf haben dürfen, wenn sie mit dem Gesicht nach unten gefallen ist. Verstehst du?« beschwor ich ihn.
»Ich muß kurz zurückrufen.« Tom ging zu einem Telefonapparat an der Wand und nahm den Hörer ab. Er sprach angeregt und verbeugte sich am Ende des Gesprächs leicht, aber ich war zu aufgeregt, um mich darüber zu amüsieren.
»Ich habe noch zehn Minuten herausgehandelt«, sagte Tom, als er zurückkam. »Hast du den Autopsiebericht dabei?«
»Natürlich.« Ich kaute auf meinem Daumennagel herum, während Tom ihn noch einmal las.
»Ja, du hast recht«, sagte er schließlich. »In Anbetracht der Umstände ist das wahrscheinlich ein Hämatom des Processus mastoideus oder Battle-Hämatom.«
»Battle – wie Kampf? Soll das heißen, sie hat mit jemandem gekämpft?«
»Nein, Kusinchen. Battle ist der Name eines Arztes, der einen bestimmten Typus von Hämatomen identifiziert hat. Er hat sich mit Kopfverletzungen beschäftigt und herausgefunden, daß bei starken Schlägen auf den Hinterkopf nicht nur der Schädel bricht,
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