Die Tote im Götakanal
den letzten Julitagen in Motala stand ganz deutlich vor Martin Becks Augen: die vollbesetzte Juno, die um den Bagger herumfuhr und ins Hafenbecken hineinsteuerte.
Er richtete sich auf, griff nach der alten Ansichtskarte und betrachtete sie nachdenklich.
»Lennart«, sagte er, »was meinst du, wieviel Fotoapparate auf dieser Reise benutzt wurden? Mindestens fünfundzwanzig oder dreißig, vielleicht vierzig. Bei jeder Schleuse sprangen Leute an Land, um das Boot und sich selbst gegenseitig aufzunehmen. Heute kleben diese Bilder in zwanzig, dreißig Familienalben. Bilder von der ganzen Fahrt. Die ersten am Kai bei Riddarholmen aufgenommen und die letzten bei Lilla Bommen. Nehmen wir an, daß zwanzig Leute je dreißig Aufnahmen während der drei Tage gemacht haben. Das wäre, niedrig gerechnet, nur ein Film pro Person. Und einige haben bestimmt noch eine Schmalfilmkamera bei sich gehabt. Lennart, es müssen mindestens sechshundert Aufnahmen vorliegen… Verstehst du… sechshundert Bilder, vielleicht tausend.«
»Ja«, sagte Kollberg langsam. »Ich verstehe, was du meinst.«
17
»Das wird eine wahnsinnige Arbeit«, sagte Martin Beck.
»Nicht schlimmer als das, was wir schon hinter uns gebracht haben«, meinte Kollberg.
»Vielleicht ist es auch nur eine fixe Idee. Ich kann mich ja irren.«
Dies war ein Spiel, das sie früher schon viele Male durchgespielt hatten. Martin Beck wurde von Zweifeln geplagt und benötigte Unterstützung. Er wußte im voraus, welche Antwort er darauf zu hören bekam. Trotzdem hielt er sich an die vertrauten Spielregeln.
»Ich finde die Idee großartig«, beharrte Kollberg; und nach einigen Sekunden fügte er hinzu: »Außerdem wird es jetzt viel schneller gehen. Wir wissen, wo wir die Leute finden können, und mit den allermeisten haben wir Kontakt aufgenommen.«
Für Kollberg war es leicht, überzeugt zu tun. Das gehörte beinahe schon zu seinen Aufgaben.
Nach einer Weile fragte Martin Beck: »Wieviel Uhr ist es eigentlich?«
»Zehn nach sieben.«
»Wohnt einer der Passagiere hier in der Nähe?«
Kollberg sah in seinem Notizbuch nach. »Du hast Glück. Näher, als du ahnst. Norr Mälarstrand. Ein pensionierter Oberst und Frau.«
»Wer hat denn mit ihnen gesprochen?«
»Melander. Nette Menschen, sagte er.«
»War das alles?«
»Ja.«
Der Asphalt war naß und blank und glitschig, und Kollberg fluchte, als der Wagen im Rondell bei Lindhagens Plan ins Rutschen kam. Drei Minuten später waren sie da.
Die Frau Oberst öffnete.
»Axel, hier sind zwei Herren von der Polizei«, schrie sie in die Wohnung hinein.
»Laß sie eintreten«, brüllte der Oberst. »Oder glaubst du, ich soll mich draußen auf die Treppe stellen?«
Martin Beck schlug den Regen vom Hut und trat näher. Kollberg putzte sich die Füße auf der Matte ab.
»Das reinste Manöverwetter«, trompetete der Oberst. »Die Herren müssen entschuldigen, daß ich nicht aufstehe.«
Auf dem niedrigen Tisch vor ihm stand eine angefangene Dominopartie, eine Wasserkaraffe und eine Flasche Remy Martin. Zwei Meter davon entfernt brachte der auf höchste Lautstärke eingestellte Fernsehapparat eine Episode aus dem Alltag der Familie Jetsons, der schon unter normalen Verhältnissen ohrenbetäubend war.
»Manöverwetter, wie gesagt. Wollen die Herren einen Cognac? Das ist das einzige, was hilft.«
»Ich fahre«, schrie Kollberg mit einem resignierte n Blick auf die Flasche.
Es dauerte zehn Sekunden, bis Martin Becks Solidaritätsgefühl die Oberhand gewann. Ihn fror, aber auch er schüttelte den Kopf.
»Frag du ihn«, flüsterte er Kollberg zu.
»Wie bitte?« schrie der Mann im Lehnstuhl.
Martin Beck brachte ein Lächeln und eine abwehrende Geste zustande. Der geringste Versuch, sich an dem Gespräch zu beteiligen, würde seine Stimme für die ganze nächste Woche unbrauchbar machen, davon war er überzeugt. Mochte Kollberg seine Stimmbänder strapazieren…
»Fotos? Nein, wir fotografieren nicht mehr. Ich sehe so schlecht, und Axel vergißt immer, den Film weiterzudrehen. Danach fragte im übrigen auch der nette junge Mann, der vor vierzehn Tagen hier war.
Ein wirklich netter Kerl.«
Martin Beck und Kollberg wechselten einen schnellen Blick. Nicht nur vor Erstaunen über die schmeichelhafte Beschreibung Melanders.
»Na, so ein Zufall«, donnerte der Oberst, »Major Jentsch… Ach, den kennen Sie natürlich nicht.
Während der Reise haben wir mit ihm und seiner Frau an einem Tisch gesessen. Intendantur-Offizier, ein
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