Die Tote im Götakanal
hervor. Wir können auch annehmen, daß sie sich selbst auszog. Ob freiwillig oder gezwungenermaßen, wissen wir nicht.«
»Nein.«
»Und dann wären wir bei der Kardinalfrage: Was wissen wir über den Täter?« Nach einigen Sekunden beantwortete Kollberg selbst seine Frage: »Daß der Betreffende ein Sadist oder sonstwie pervers ist.«
»Daß es sich um einen Mann handeln muß«, fügte Martin Beck hinzu.
»Mit ziemlichen Kräften. Roseanna McGraw war selber ein ganz kräftiges Mädchen.«
»Wir wissen, daß er sich an Bord der Diana befunden haben muß.«
»Ja, wenn wir davon ausgehen, daß unsere früheren Annahmen zutreffend sind.«
»Daß er zu einer der zwei gegebenen Kategorien gehören muß: zu den Passagieren oder zur Besatzung.«
»Wissen wir das wirklich?«
Es wurde still im Zimmer. Martin Beck massierte seinen Haaransatz mit den Fingerspitzen. Schließ- lich sagte er: »Es gibt keine andere Alternative.«
»Glaubst du?«
»Ja.«
»Na schön. Dagegen wissen wir nichts über sein Aussehen und nichts über seine Nationalität. Wir haben keine Fingerabdrücke und nichts, was ihn mit dem Verbrechen in Verbindung bringt. Wir wissen nicht, ob er Roseanna McGraw schon vorher kannte, wir wissen natürlich auch nicht, woher er kam, wohin er reiste oder wo er sich augenblicklich befindet.« Kollberg wurde auf einmal sehr ernst. »Wir wissen verdammt wenig, Martin«, sagte er. »Wir wissen nicht mal ganz sicher, daß Roseanna McGraw nicht in Göteborg das Boot frisch und gesund verlassen hat. Hast du darüber nachgedacht, daß das tatsächlich der Fall sein könnte. Daß sie später von jemandem umgebracht worden sein kann? Jemandem, der wußte, wo sie herkam, und der ihren Leichnam nach Motala brachte und ihn in den See warf?«
»Ich habe daran gedacht, aber das ist zu absurd, das geht einfach nicht.«
»Bis wir die Speisekarten für die Tage hierhaben, ist es jedenfalls theoretisch denkbar. Auch wenn es sich gegen alle Vernunft anhört. Und selbst wenn uns der Beweis, der tatsächliche Beweis, glückt, daß sie niemals in Göteborg angekommen ist, selbst dann gibt es immer noch eine Möglichkeit: daß sie während des Durchschleusens in Borenshult an Land gegangen ist und einem Verrückten in die Händel fiel, der sich dort in dem Gebüsch herumtrieb.«
»Wenn da was dran wäre, hätten wir irgendwas finden müssen.«
»Ja, aber hätten ist ein vager Begriff. Bei diesem Fall gibt es ein paar Dinge, die mich halb verrückt machen. Mir will es einfach nicht in den; Kopf, daß sie auf halber Strecke verschwunden sein soll, ohne daß jemand es merkte. Weder die Aufwartefrau noch die, die im Eßsaal, servierte.«
»Der Mörder muß an Bord geblieben sein. Er brachte die Kabine , wieder in Ordnung, daß sie aussah, als wäre sie normal gebraucht worden. Es handelte sich ja nur um eine Nacht.«
»Aber das Bettlaken und die Bettdecke? Es muß doch alles voll Blut gewesen sein. Er konnte sich ja wohl nicht hinstellen und waschen. Und wenn er die Sachen über Bord geworfen hat, dann hätten sie doch in der Kabine gefehlt.«
»So viel Blut war das gar nicht, glaubt jedenfalls der Obduzent. Er muß sich eben frisches Bettzeug besorgt haben«, meinte Martin Beck.
»Wenn er zur Besatzung gehörte, lasse ich das gelten. Aber ein Passagier? Und ohne daß jemand es merkte?«
»Das ist nicht so schwer. Bist du einmal nachts an Bord eines Passagierschiffs gewesen?«
»Nein.«
»Das ganze Schiff schläft. Alles ist still und menschenleer. So gut wie alle Schränke und Schubladen sind unverschlossen. Während unser Schiff den Vätternsee passierte, waren mit Gewißheit nur drei; Personen wach; zwei auf der Brücke und einer an der Maschine.«
»Und niemand sollte bemerkt haben, daß sie in Göteborg nicht an Land ging?«
»Es gibt keine besondere Formalität bei der Ankunft. Das Schiff legt bei Lilla Bommen an, und jeder nimmt seinen Trödelkram und rauscht über die Gangway. In unserem Fall hatten es die meisten wegen der Verspätung eilig. Außerdem war es ausnahmsweise dunkel, als man ankam.« Martin Beck seufzte und starrte auf die Wand. »Das einzige, was mich wirklich irritiert, ist, warum die Passagiere in der Kabine Nr. A 3 nichts gehört haben…«
»Die Frage kann ich dir beantworten«, entgegnete Kollberg und blätterte in seinem Notizbuch. »Heute nachmittag bekam ich Auskunft über die Leute. Kabine Nr. A 3 wurde von einem holländischen Ehepaar bewohnt, beide über Siebzig und so gut wie
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