Die Tote im Götakanal
stocktaub.«
Kollberg schlug sein Büchlein zu und fuhr sich durchs Haar. »Unsere sämtlichen Theorien über das Verbrechen beruhen also hauptsächlich auf Wahrscheinlichkeitsprinzipien, logischen Annahmen und verschiedenen psychologischen Rückschlüssen. Mit handfesten Beweisen steht es schlecht. Wo wir uns aber sowieso schon auf diesen schwankenden Boden begeben haben, können wir unser statistisches Material ruhig einmal auf ähnliche Art beleuchten.«
Martin Beck wippte den Stuhl nach hinten und kreuzte die Arme über der Brust. »Laß mal hören«, sagte er.
»Wir haben die Namen von sechsundachtzig Personen, die an Bord waren. Achtundsechzig Passagiere und achtzehn Besatzungsmitglieder. Elf fehlen uns noch; den Rest haben wir lokalisiert und angeschrieben. Und von diesen elf kennen wir sogar Nationalität, Geschlecht und – mit drei Ausnahmen – Alter. Jetzt gehen wir nach dem Ausschließungsprinzip vor. Als erstes schließen wir Roseanna McGraw aus. Bleiben fünfundachtzig. Danach alle Frauen, acht von der Besatzung und siebenunddreißig unter den Passagieren. Bleiben vierzig. Unter diesen sind vier Jungen unter zehn Jahren und sieben Männer, die über Siebzig sind. Bleiben neunundzwanzig. Der Kapitän und der Rudergänger hatten Wache zwischen acht und Mitternacht, geben sich gegenseitig ein Alibi. Die hatten kaum Zeit, irgendeinen Lustmord zu begehen. Beim Maschinenpersonal ist es nicht ganz so klar. So ergibt sich also die Schlußsumme von siebenundzwanzig. Wir haben also die Namen von siebenundzwanzig männlichen Personen im Alter von vierzehn bis achtundsechzig Jahren. Zwölf Schweden, davon sieben aus der Besatzung, fünf Amerikaner, drei Deutsche, ein Däne, ein Südafrikaner, ein Franzose, ein Engländer, ein Schotte, ein Türke und ein Holländer. Die geographische Streuung ist immer noch erschreckend. Von den Amerikanern wohnt einer in Oregon und einer in Texas, der Engländer in Nassau auf den Bahamas, der Südafrikaner in Durban und der Türke in Ankara. Es wird eine Teufelsreise für die, die das Verhör durchzuführen haben. Außerdem haben wir von diesen siebenundzwanzig immer noch vier Personen nicht lokalisieren können, einen Dänen und drei Schweden. Keiner der Passagiere ist früher schon einmal mit den Kanalschiffen gefahren; Melander hat die Passagierlisten der letzten fünfundzwanzig Jahre überprüft. Meiner Theorie nach kann keiner der Passagiere es getan haben. Nur vier reisten in Einzelkabinen. Die anderen müssen mehr oder weniger von ihren Kabinengenossen überwacht gewesen sein.
Keiner hatte hinreichend Kenntnis des Schiffs, der Bordroutine und der Fahrstrecke, um das Verbrechen so erfolgreich zu planen und durchzuführen.
Bleiben die acht der Besatzung: der Steuermann, die beiden Heizer, der Koch und drei Burschen an Deck – den Chief haben wir schon ausrangiert, er fiel wegen Altersgrenze weg. Meiner Theorie nach kann es auch keiner von ihnen getan haben. Sie hatten sich gegenseitig ziemlich unter Kontrolle, und die Möglichkeiten, mit den Passagieren zu fraternisieren, scheinen begrenzt gewesen zu sein. Meine Theorie ist also, daß niemand Roseanna McGraw ermordet hat. Und die ist offensichtlich falsch. Meine Theorien gehen immer in die Binsen. Das ist die Gefahr, wenn man zu scharf nachdenkt.«
Es blieb eine halbe Minute still zwischen den beiden. Schließlich fuhr Kollberg wieder fort: »Ob dieser Kerl, dieser Eriksson… Mann, das war Dusel, daß du den festnehmen konntest. He… Hörst du gar nicht zu?«
»Aber sicher«, entgegnete Martin Beck geistesabwesend. »Sicher höre ich zu.«
Es stimmte. Er hatte zugehört. Aber während der letzten paar Minuten hatte er Kollbergs Stimme nur wie aus weiter Ferne vernommen. Zwei Ideen waren ihm plötzlich durch den Kopf geschossen… Die eine noch vage, auf einer Assoziation zu etwas, das er jemanden hatte sagen hören, aufgebaut, und sie war auch sofort zurück in den Bodenschlamm von unfertigen und vergessenen Gedanken herabgesunken. Die andere handgreiflicher, ein neuer und – soweit er es überschauen konnte – durchführbarer Angriffsplan.
»Sie muß jemanden an Bord getroffen haben«, murmelte er vor sich hin.
»Soweit nicht Selbstmord vorliegt«, bestätigte Kollberg mit matter Ironie.
»Jemand, der nicht vorhatte, sie zu töten… Jedenfalls nicht von Anfang an. Der also keine Veranlassung hatte, sich versteckt zu halten…«
»Ja, sicher, das nehmen wir an, aber was hilft es, wenn…«
Eine Szene aus
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