Die Tote im Nebel - historischer Krimanlroman
sehen«, mischte sich der Wachmann wieder ein. »Passen Sie auf, dass Sie sie nicht gleich mit aufhängen, Herr Doktor.«
»Halten Sie den Mund, Schneider«, schnarrte der Justiziar. »Wenn Hand an Doktor Laumann gelegt wird, schießt ihr gefälligst.«
»Das vermeiden Sie bitte um Himmels willen«, wehrte Julius entschieden ab. »Das sind anständige Bürger. Wenn Sie hier schießen lassen, wecken Sie womöglich Kräfte, die Sie besser nicht geweckt hätten. Wünschen Sie mir Glück.«
Er hörte noch, wie der Justiziar hinter ihm etwas von »Wir sind hier in Marburg, nicht in Paris« murmelte, aber er ersparte sich eine Antwort.
Die Sonne blendete ihn, als die Tür hinter ihm zufiel und er über den Hof zum Tor lief, und für einen Moment fragte er sich, welcher Ironie des Schicksals es wohl gefiel, ausgerechnet heute den grauen Himmel aufzureißen. Auch wenn er es dem Justiziar und den Wachleuten gegenüber nicht zugegeben hätte, spürte er, wie sein Hals eng wurde beim Anblick der versammelten Bürger, die sich vor dem Tor drängten. Der Lärm war mit einem Mal verstummt, und für einen Moment fühlte Julius alle Blicke auf sich ruhen. Gespannte Erwartung hing nahezu greifbar in der Luft. Obwohl Julius es hasste, vor Menschen zu sprechen, hatte ihm einer seiner Professoren einmal gesagt, dass er diese Kunst recht gut beherrsche. Möchte der Himmel geben, dass das keine leere Floskel gewesen war.
»Wo ist die Hexe?«, tönte ein Ruf zum ihm herauf. »Schafft sie heraus!« Zustimmendes Gemurmel kam auf, weitere Stimmen erhoben sich und verstummten wieder, als Julius die Hand hob.
»Was wollt ihr von der?«, fragte er laut genug, dass sie ihn gut verstehen konnten. »Maria Dörr ist eine einfache, alte Frau, die euch über Jahrzehnte geholfen hat, wenn ihr in Not wart. Warum wollt ihr jetzt ihren Tod?«
»Weil sie eine Hexe ist!«, brüllte jemand. »Sie ist eine Giftmischerin!«
»Sie mischt die Gifte, die ihr bei ihr kauft«, verbesserte Julius. »Zeigt nicht mit dem Finger auf jemanden, den ihr erst zu dem macht, was er ist.«
»Sie ist eine Hexe!«
»Woher wollt ihr das wissen? Wissen Sie es sicher?« Julius wandte sich dem Mann zu, der gerade gerufen hatte. »Haben Sie gesehen, wie sie gezaubert hat? Ist sie mit einem Besen durch den Schornstein gefahren und hat sie mit dem Teufel gebuhlt? Habt ihr sie nachts beim Hexenreigen tanzen gesehen?«
»Natürlich nicht«, blaffte der Angesprochene zurück, offensichtlich peinlich berührt. Die Faust, die noch geballt war, sank herab. »Wie sollte ich auch.«
»Eine gute Frage, auf die ich vielleicht eine Antwort geben kann. Sie haben das nie gesehen, weil es das nicht gibt! Es gibt keine Hexen. Alle Geschichten darüber sind Ausgeburt eines wirren Aberglaubens, der schon viel Unheil angerichtet hat. Die, die ihr Hexe nennt, habt ihr selbst dazu gemacht! Tatsächlich ist sie nicht mehr als eine alte, einsame Frau, die von eurem Glauben lebt, sie könne Warzen fortzaubern oder mit ihren Tränken die Gicht heilen, die ihr euch angefressen habt!«
»Sie ist eine Mörderin«, wandte der Metzger ein, den Julius nach der Wurst befragt hatte. Er hatte den Unterkiefer entschlossen vorgereckt, aber seine Stimme verriet, dass seine Überzeugung bereits ins Wanken geraten war. »Sie hat die junge Wittgen auf dem Gewissen, sie hat sie doch vergiftet! Und Gott allein mag wissen, wen sonst noch alles!«
»Das, was sie Katharina Wittgen gegeben hat, hat sie anderen Weiber ebenso verkauft«, widersprach Julius. »Es sollte nicht die Mutter töten, sondern die Leibesfrucht. Dafür wird Maria Dörr zur Rechenschaft gezogen. Doch mit dem Tod der Wittgenfrauen hat sie nichts zu tun.«
»Woher wollen Sie das wissen?« Der Fleischhauer stemmte die Fäuste in die Seiten und äugte einem Bullhund gleich mit schräg gelegtem Kopf zu ihm hoch. »Wer soll es sonst gewesen sein?«
»Das werden wir herausfinden, wenn wir den rothaarigen Fuchs gefasst haben! Er hat das Gift gestohlen, und er weiß … « Julius brach ab, als aufbrandende Unruhe seine Worte verschluckte. Erneut versuchte er die Hand zu heben, um sich Gehör zu verschaffen, aber dieses Mal beruhigte sich die Menge nicht so schnell. Aufgebracht riefen sie durcheinander, schüttelten die Köpfe, als sei der Gedanke allein zu absurd, um ihn in Erwägung zu ziehen.
»Nun hört mir auch zu!«, brüllte Julius. »Es ist so, wie ich es euch sage. Hannes Fuchs hat das Gift besorgt! Er wäre längst gefasst, aber Wittgen
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