Die Tote im Nebel - historischer Krimanlroman
Scheibe gedrückt, und starrte hinaus. Der Himmel war grau wie so oft in den letzten Tagen, doch heute trieb der Wind erstmals feine Schneeflocken mit sich, zu schwach noch, um liegen zu bleiben, aber es würde nicht mehr lange dauern, und Schnee läge auf Marburgs Dächern und versetzte die Stadt in einen verwunschenen Winterschlaf. Dann würde die Großmutter wieder ihre Märchen erzählen, doch dieses Mal würde Sophie sich nicht gruseln, wenn der böse Wolf Schlimmes im Sinn hatte. Schließlich hatte sie ihm selbst in den Schlund geblickt.
Es klopfte, und Bettine, Brentanos junge Schwester, sprang auf, um nach unten zu laufen und zu öffnen. Sie hatten sich heute alle in Savignys Haus versammelt, Clemens Brentano und seine Verlobte, Brentanos Schwestern, Lotte und auch die Grimms, die mit Savigny und Brentano gerade nach oben in die Bibliothek verschwunden waren. In zwei Tagen würde die Hochzeit stattfinden, sodass es kaum ein anderes Thema gab, doch die Gespräche verstummten, als Bettine zurückkam und den Besucher mitbrachte.
»Julius!« Sophie flog herum und fiel ihm vor Erleichterung um den Hals. Dass er hierher kam, konnte nur eins bedeuten.
Julius taumelte erschrocken zurück, fing sich aber rasch wieder und schob Sophie sacht von sich. »Pass auf, sonst stürzt du mich noch die Treppe hinab!«
»Du kannst bleiben, nicht wahr?«, strahlte Sophie und tippelte unruhig von einem Fuß auf den anderen. »Sie schicken dich nicht weg?«
»Also, erst einmal können sie mich gar nicht fortschicken. Das vermag nur der Kurfürst. Aber man sieht von einer entsprechenden Bitte ab.«
»Das freut mich für dich«, sagte Lotte, die aufgestanden war und Julius’ Hände ergriff. Sie lächelte. »Marburg hat einen guten Fang gemacht mit dir. Man wird uns um unseren Stadtphysikus beneiden.«
»Oder bemitleiden«, grinste Sophie und zog schnell die Hände hinter den Rücken, um der Versuchung zu widerstehen, ihm einen Knuff in die Seite zu geben. »Aber du musst zugeben, dass du ohne mich nicht so weit gekommen wärst.«
»Nichts muss ich zugeben«, wehrte Julius ab, aber er lächelte dabei. »Wo ist eigentlich Wilhelm?«
»Oben«, mischte sich Bettine ein. »In der Bibliothek, mit meinem Bruder.«
»Ah.« Julius nickte. »Dann hat er wohl immer noch nicht genug von diesem verwunschenen Hokuspokus?«
Sophie schüttelte schmunzelnd den Kopf. »Im Gegenteil. Ich glaube, er fängt damit gerade erst an.«
*
Wilhelm war mit dem Gedichtband ans Fenster getreten, um besseres Licht zu haben für die Stelle, die Brentano ihm gezeigt hatte. Hinter ihm hörte er seinen Bruder und Savigny über ein Buch gebeugt leise murmeln. Wilhelms Blick glitt von den Buchstaben ab und verlor sich in der Ferne, wo das Lahntal im grauen Dunst versank und sich trotz des frühen Nachmittags die Dunkelheit ausbreitete. Es wurde Winter, sein erster Winter in Marburg, und er war gespannt darauf, die verschneite Stadt zu erleben, wie Sophie sie ausgemalt hatte. Ein Ort, an dem sich die Seele öffnete für die Geschichten, die in kalten Winternächten am Kaminfeuer erzählt wurden und die zur Seele eines Volkes gehörten wie seine Sprache.
»Woran denkst du?«, riss ihn Brentanos Stimme aus den Gedanken.
Mit einem verlegenen Lächeln wandte Wilhelm den Blick vom Fenster ab und deutete auf das Buch.
»Etwas, worüber wir schon einmal gesprochen haben. Ich denke darüber nach, wo die Geschichten ihren Ursprung nehmen«, antwortete er wahrheitsgemäß. »Die Lieder, Sagen, Märchen … Großmütter erzählen sie ihren Enkeln und die tragen sie weiter und ihre Enkel nach ihnen. Es ist erstaunlich, wie sie sich ähneln und mit den Ängsten der Menschen spielen.«
»Du meinst die Sache mit dem Wolf … «
Wilhelm nickte. »Zum Beispiel. Wenn die Furcht nicht dagewesen wäre, hätte man das Tier vielleicht früher gejagt.«
»Man fürchtete sich davor, weil es etwas Unheimliches, Unbegreifliches war. Zumindest solange, bis man es erschossen hat.« Brentano verzog einen Mundwinkel. »Aber wahrscheinlich hast du recht und die Geschichten tragen letztendlich die Urängste und Sehnsüchte eines Volkes in sich. Seine Seele. Vielleicht wäre es das wert zu ergründen?«
»Wie meinen Sie das?«
Brentano hob die Schultern. »Ich sammele Lieder und trage sie zusammen. Warum sollte man das Gleiche nicht mit den Märchen tun? Schließlich sind sie ebenso unser Volksgut wie unsere Lieder.«
»Ich sollte mich vor allem meinen rechtswissenschaftlichen
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