Die Tote im Nebel - historischer Krimanlroman
ein paar Antworten zu erhalten.«
*
Sorgfältig zupfte Theodor Laumann das Halstuch zurecht und besah sich noch einmal im Spiegel, ehe er den Kneifer von der Kommode nahm und auf die Nase setzte. Manche Dinge betrachtete man besser mit altersschwachen Augen, dachte er leise seufzend, während er die Uhr aus der Westentasche hervorzog. Ein müdes Gesicht etwa, dem die notwendige Entschlossenheit fehlte. Vor ein paar Jahren noch hätte ihm die überraschende Einladung der Medicinal-Deputation nicht solches Bauchgrimmen bereitet. Er hätte sich erhobenen Hauptes den Fragen gestellt, hätte vielleicht gestritten und wäre anschließend gemeinsam mit den Professoren zur ›Sonne‹ eingekehrt, um den Abend bei einer guten Pfeife ausklingen lassen. Vermutlich war es der Ärger der letzten Tage, der ihn erschöpft werden ließ, dachte er, während sein Blick zum Fenster hinausging auf den Markt, der inzwischen im Schatten der umliegenden Häuser lag. Laumann vertraute auf seinen Verstand. Er verabscheute alles, was sich nicht erklären ließ, denn man konnte keine Abhilfe schaffen, wenn man etwas nicht verstand. Und Abhilfe zu schaffen und den Dingen auf den Grund zu gehen war seine Aufgabe als Ratsherr und Stadtsyndikus. Nüchtern, präzise, schonungslos. Doch das, was Marburg zurzeit erschütterte, ließ sich nicht so einfach fassen. Laumann war, als habe sich in den Wäldern ein Tor zu längst vergangenen Zeiten aufgetan, um Übel auszuspeien, die ihre Welt in all ihrer Vernunft zu erschüttern suchten. Vor einer Woche noch hätte er gelacht und über die abergläubische Furcht vorm Bösen Wolf gespottet, doch seit sich am gestrigen Abend eine Menge zusammengerauft hatte und vors Rathaus gezogen war, verstand er, dass man die Furcht der Menschen nicht auf die leichte Schulter nehmen durfte. Angst gebar Ungeheuer, und das schlimmste aller Ungeheuer war die Revolution.
Ein Klopfen ließ ihn aufblicken und ein »Herein« knurren. Es war das Dienstmädchen, das den Kopf zur Tür hineinsteckte und ihm mitteilte, dass er Besuch habe.
»Richte aus, dass ich keine Zeit habe«, brummte er und ließ den Deckel seiner Taschenuhr aufspringen. Er schob den Zwinker auf der Nase zurecht, um das Ziffernblatt besser zu erkennen. Die Sitzung begann in einer Viertelstunde. Es wurde wahrlich Zeit, dass er sich auf den Weg machte. »Er soll morgen wiederkommen.«
»Morgen ist es leider zu spät.« Die Tür wurde ganz aufgeschoben, und ein Mann trat an dem Dienstmädchen vorbei hinein. Laumann legte die Hand an den Zwinker und wollte sich schon erkundigen, was diesen ungebührlichen Einfall rechtfertigte, als er den Besucher erkannte.
»Doktor Wittgen, wenn ich mich nicht irre?«
»Sie irren sich nicht, Herr Stadtrat.« Wittgen lächelte höflich und nahm seinen Hut vor die Brust, um eine Verbeugung anzudeuten. »Verzeihen Sie den Überfall, aber mein Anliegen kann nicht bis morgen warten.«
Laumanns Blick glitt kurz zur Tür und zu dem Dienstmädchen, das hastig den Kopf einzog. Er hatte die Magd angewiesen, dass er nicht mehr gestört werden wollte, doch dem Nachdruck zu verleihen würde morgen noch Zeit sein. Mit einem Wink gab er dem jungen Ding zu verstehen, dass es verschwinden sollte, und wandte sich wieder dem Besucher zu. »Bitte, setzen Sie sich.« Er wies auf einen Polsterstuhl am Fenster, während er selbst an seinen Schreibtisch zurückkehrte. »Ich muss Sie jedoch bitten, sich kurz zu fassen. Man erwartet mich zu einer Sitzung.«
»Ich weiß. Das ist der Grund meines Kommens.« Wittgen nahm Platz, schlug ein Bein über das andere, den Hut auf das Knie ablegend. »Sie kennen den Anlass der Versammlung?«
»Bislang nicht. Die Eile der Einladung ließ keine Zeit für Erklärungen. Aber ich gehe davon aus, dass man es mir gleich mitteilen wird«, antwortete Laumann ausweichend. Seine Befürchtungen musste er Wittgen nicht unter die Nase reiben. Es konnte kein Zufall sein, dass man ihm mittags mitgeteilt hatte, sein Sohn Julius sei in Marburg angekommen, und einen halben Tag später eine überraschende Sitzung der Medicinal-Deputation einberufen wurde. Als ob er nicht genug Ärger hätte. »Was kann ich denn für Sie tun?«
»Eine ganze Menge, Herr Stadtrat. Meine Tochter wurde heute Nachmittag tot aufgefunden.«
Laumann blickte betroffen auf. »Das … tut mir sehr leid. Was ist geschehen?«
»Sie ist ertrunken.« Wittgens Stimme klang erstaunlich fest. Noch immer lächelte er, die höfliche Maske eines Mannes, der
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