Die Tote im Nebel - historischer Krimanlroman
sagen« Ein unterschwelliges Beben in Wittgens Stimme verriet, dass es ihm schwerfiel, die Fassung zu wahren. »Ich war auf Reisen und habe erst bei meiner Rückkehr erfahren, dass … « Er verstummte.
»Helene fühlte sich nicht wohl, das stimmt«, ließ sich Katharina vernehmen. »Aber sie hat nicht mit mir gesprochen. Sie war nicht bereit, eine Mutter in mir zu sehen, ja, nicht einmal die Gattin ihres Vaters, der sie Gehorsam schuldete. Sie tat, was immer sie für richtig hielt, wenn mein Gemahl unterwegs war, und hat mich behandelt, als sei ich Luft.«
»Verdammt, Weib, es hätte zu deinen Pflichten gehört, für sie zu sorgen!«, fuhr Wittgen herum. »Dann wäre sie vielleicht noch am Leben.«
»Ich kann nicht behaupten, dass Sie sich besonders darum bemüht hätten, mir den Gehorsam Ihrer Tochter zu sichern«, gab Katharina spitz zurück. »Was sollte ich denn tun? Sie einsperren?«
Julius räusperte sich. Ihm war es unangenehm, Zeuge dieses Streits zu sein, der anscheinend schon länger schwelte, und ein Blick zu Sophie verriet ihm, dass es ihr genauso erging.
»Wann haben Sie sie denn zuletzt gesehen?«, fragte er rasch.
Katharina hob die Schultern und wechselte einen kurzen Blick mit Emilie. »Vorgestern. Sie wollte nicht zum Essen herunterkommen. Angeblich war ihr nicht gut.«
»Könnte sie etwas Verdorbenes gegessen haben? Oder waren noch andere Mitglieder des Haushalts erkrankt in letzter Zeit?«
Katharina schüttelte ratlos den Kopf. »Nicht, dass es mir bekannt wäre. Greta, unser Mädchen, ist gesund wie eine junge Kuh, und mein Mann … war auf Reisen.«
»Sie reisen viel?«, wandte sich Julius an den Hausherrn, der die Arme verschränkt hatte.
»Man ersucht in Kassel oft meinen Rat«, erwiderte Wittgen knapp. »Ich bin gezwungen, viel zu reisen.«
»Verstehe.« Julius nickte. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich einen Blick in Helenes Zimmer werfe? Vielleicht findet sich dort etwas, was uns weiterhilft, ihren Tod zu erklären.«
Für einen Moment schien es, als wollte Wittgen die Bitte rundheraus ablehnen, aber dann nickte er widerstrebend. »Ich habe angeordnet, dass nichts angerührt wird. Wenn es Ihnen weiterhilft, schauen Sie sich in Gottes Namen um. Danach lassen Sie uns bitte in Frieden.«
»Ich danke Ihnen.« Julius erhob sich. »Machen Sie sich keine Umstände, wir finden die Kammer schon.«
»Greta begleitet Sie hinauf. Und teilen Sie uns mit, wenn Sie etwas herausfinden.«
Das hätte man vielleicht schon, wenn man die Obduktion zuließe, dachte Julius im Stillen. Höflich verabschiedete er sich von den beiden Frauen sowie dem Doktor und folgte der Magd, die unerwartet schnell zur Stelle war, dass er annahm, sie habe jedes Wort an der Tür belauscht.
Julius musste kein Hellseher sein, um zu bemerken, dass Sophie verärgert war. Wortlos schritt sie hinter ihm die Treppe hinauf, die sie in Helenes Schlafzimmer führte, und sie sagte nichts, als die Magd sie darauf aufmerksam machte, dass auf Wunsch des Hausherrn nichts angerührt werden dürfe. Erst, als sich die Tür hinter Greta geschlossen hatte und ihre Schritte auf der Treppe verklungen waren, wirbelte sie herum. Ihre Augen blitzten unter den zusammengezogenen Brauen. »Was fällt dir eigentlich ein?«, fauchte sie. »Du hast doch selbst gesagt, dass sie nicht ertrunken ist! Warum redest du den Leuten nach dem Mund, obwohl du es besser weißt? Dieser Wittgen …
»… trauert«, unterbrach sie Julius knapp. Er ging ein paar Schritte durch den Raum, sah sich suchend um. »Er ist außer sich vor Schmerz. Nachvollziehbar. Menschlich.«
»Ja?« Sophie schüttelte verständnislos den Kopf, die Hände in die Hüfte gestemmt. »Gerade dann müsste er doch herausfinden wollen, was Helene wirklich zugestoßen ist.«
»Menschen neigen dazu, die leichteste Antwort für die wahre zu halten, wenn jede andere schmerzen würde«, erwiderte Julius, während er sich fragte, was er hier eigentlich erwartet hatte. Es war eine Schlafkammer, wie es sie in Marburg wohl in jedem besseren Bürgerhaus gab, mit einem Bett, einem bemalten Kleiderschrank, Tischchen und einem Bücherregal, das zur Hälfte mit leichter Literatur gefüllt war. Ein Strauß vertrockneter Herbstblumen stand in einem irdenen Krug am Fenster, und auf dem Tisch stand eine leere Schale, wie man sie als Obstablage nutzte. »Weißt du, ob Helene Tagebuch oder Briefe geschrieben hat?«
»Nein«, schnappte Sophie. Sie hatte sich noch nicht von der Stelle gerührt.
Weitere Kostenlose Bücher