Die Tote im Nebel - historischer Krimanlroman
dass Tante Hilde gestürzt sei. Sie braucht dringend Hilfe.«
»Du wirkst nicht glücklich.«
Lisbeth lachte heiser auf. »Das wäre auch zu viel verlangt. Du kennst doch Tante Hilde. Sie wird mich nicht gehen lassen, solange sie noch irgendein Zipperlein plagt. Vielleicht wird es Frühjahr, bis ich heimkomme.«
Sophie nickte leicht. Sie hatte die Tante selten zu Gesicht bekommen, da diese sich lieber an Lisbeth hielt, aber sie wusste aus Gesprächen ihrer Mutter, dass Hilde sehr einsam war in Kassel. Sie wäre nicht die erste Witwe, die sich Gesellschaft ›erzwang‹. »Heinrich wird es verkraften«, tröstete sie, auch wenn sie wusste, wie hohl ihre Worte klangen. »Vielleicht stellt er ja auch fest, wie sehr er dich vermisst, und beeilt sich mit der Hochzeit, ehe Tante Hilde dich noch einmal in Beschlag nimmt.«
Ein Lächeln zuckte in Lisbeths Mundwinkeln. Sie umarmte Sophie kurz und stumm. »Möge Gott geben, dass du recht behältst und er mich nicht vergisst«, murmelte sie, während sie sich wieder löste. Sie griff nach einem weiteren Stapel Wäsche. »Dein Galan war vorhin übrigens hier und hat nach dir gefragt.«
»Wilhelm?«
Lisbeth nickte, sie grinste flüchtig. »Gibt es noch mehr?«
Sophie schüttelte heftig den Kopf. »Er ist nicht mein Galan. Wann war er hier? Und was wollte er?«
»Das weiß ich nicht. Aber er hat eine Nachricht hier gelassen. Sei froh, dass ich mit ihm gesprochen habe und nicht Mutter. Dort auf deinem Bett liegt der Zettel.«
»Gott schütze dich, Lisbeth!« Mit einem Satz war Sophie am Bett und riss den einfach gefalteten Zettel an sich. Rasch überflog sie die wenigen Zeilen und spürte, wie ihr Herz bereits zu pochen begann, kaum, dass sie die ersten Worte gelesen hatte. »Ich muss wieder fort«, verkündete sie und ließ den Brief in ihrem Ärmel verschwinden. »Bis zum Abendessen bin ich zurück.«
»Und was soll ich Mutter sagen, wenn sie fragt, wo du steckst?«
»Denk dir etwas aus.« Sophie war bereits an der Tür, warf ihrer Schwester einen Handkuss zu. »Dir fällt sicher etwas ein, Schwesterherz.«
»Ja, geh schon«, brummelte Lisbeth, aber Sophie wusste, dass sie ihr nicht gram war. So verschieden sie waren, sie waren doch Schwestern.
Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, eilte sie die Treppe hinab.
*
Julius spürte die Blicke, die auf ihm ruhten, fast körperlich. Man hatte Tische in einem Halbkreis um ihn herum aufgestellt, ohne ihm selbst einen Stuhl anzubieten, sodass er sich gleich einem Angeklagten fühlte, der vor seinen Richtern stand. Wahrscheinlich war das die Intention der Deputation, dachte er grimmig, während er sich zwang, seinen Unmut hinter einer Maske freundlicher Gleichgültigkeit zu verbergen. Mochten sie sich besser fühlen, indem sie Wege ersonnen, ihn einzuschüchtern – er würde ihnen den Erfolg nicht gönnen.
»Doktor Friedrich Julius Laumann«, verlas Professor Michaelis gedehnt. »Geboren am siebenundzwanzigsten Mai des Jahres Siebzehnhundertachtundsiebzig zu Marburg. Sind Sie das?«
Julius nickte – überflüssigerweise, wie er fand, aber er wollte der Deputation keinen unnötigen Grund zum Ärger geben. »Die Angaben stimmen.«
»Gut.« Michaelis strich sich mit den Fingerrücken über die Lippen, während er das Dokument überflog, als läse er es das erste Mal. »Man hat Sie nach Marburg gerufen, um die Stelle als Adjunkt des Stadtphysikus’ Doktor Hirschner anzutreten. Der Deputation liegen Empfehlungen vor, die Sie als geeignet ausweisen. Wie Sie wissen, obliegt die Einschätzung Ihrer Befähigung gemäß der Kurfürstlichen Verordnung jedoch der Deputation. Ohne deren Zustimmung sind jegliche medizinische Handlungen untersagt, zum Schutz der Untertanen und zur Verbesserung des Medicinalwesens.«
Julius nickte erneut. Er ahnte, worauf Michaelis hinauswollte, und die aufkommende Unruhe verriet, dass es den Anwesenden ebenso ging.
»Mir sind die Bestimmungen sehr bewusst«, sagte er ruhig und verschränkte die Hände auf dem Rücken. Den Kopf erhoben, blickte er Michaelis entgegen. »Ich bin bereit, mich Ihrer werten Prüfung zu unterziehen und darzulegen, dass ich den Anforderungen, die an einen Adjunkt gestellt werden, sehr wohl gewachsen bin.«
Michaelis stützte die Ellenbogen auf den Tisch. Über die angelegten Fingerspitzen sah er Julius an. »Sie haben ein gesundes Selbstbewusstsein, Laumann«, bemerkte er. »Sie halten sich für einen großen Arzt, weil Sie in Paris waren, nicht wahr?«
»Ich habe in Paris
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