Die Tote im Nebel - historischer Krimanlroman
»Was erwartest du dort zu finden? Einen Eintrag, in dem sie beschreibt, dass sie vorhat, sich am Abend in die Lahn zu stürzen?«
»Das würde die Sache erheblich erleichtern.« Julius trat vor den Schrank und fuhr mit den Fingerspitzen über die feinstrichige Blumenbemalung. Es widerstrebte ihm, die persönliche Habe des jungen Mädchens zu durchwühlen, aber es war der einzige Anhaltspunkt, den er hatte. »Wenn du dich nützlich machen willst, dann schau dich bitte um.«
Er hörte, wie Sophie zornig Luft zwischen den Zähnen hindurchdrückte, doch das Rascheln ihres Kleides zeigte ihm an, dass sie seiner Aufforderung nachkam.
Der Kleiderschrank war erwartungsgemäß nicht verschlossen, förderte aber außer einer Reihe modischer Kleider und einer kleinen Schatulle mit Schmuck nichts Bemerkenswertes zu Tage.
»Sei vorsichtig mit den Kleidern«, warnte Sophie, die das Regal in Augenschein genommen hatte. »Die haben ein Vermögen gekostet.«
»Das erkennst du?« Julius nahm das Kleid, das er gerade aus dem Schrank gezogen hatte, und hob es an, um es zu betrachten. Er verstand wenig von solchen Dingen, stellte er einmal mehr fest, aber das kam vermutlich noch auf ihn zu, wenn er sich ein Weib nahm. »Dem Doktor war seine Tochter demnach einiges wert?«
»Ich glaube schon.« Sophie streckte sich auf die Zehenspitzen, um auf das Regal blicken zu können – ein vergebliches Unterfangen. »Er reist wirklich sehr viel, und Helene hat ihn nicht oft erwähnt. Aber wenn sie von ihm gesprochen hat, dann immer in den höchsten Tönen.« Mit einem leisen Seufzer sah sie sich um und griff nach dem Stuhl, der am Tischchen stand. »Ich kenne ihn kaum, aber wenn ich ihn gesehen habe, war er immer freundlich. Weißt du was?«, hielt sie unvermittelt inne und drehte sich zu ihm um. »Ich glaube, ich weiß, wer Helenes Tod zu verantworten hat.«
»Ach wirklich?« Julius’ Mundwinkel zuckte ironisch. Vorsichtig schob er das Kleid zurück in den Schrank, bemüht, es nicht zu sehr zu zerknittern. »Was bringt dich zu dieser Erkenntnis?«
»Mein Verstand.« Sophie stellte den Stuhl ab und raffte ihren Rock, um die Sitzfläche zu erklimmen. »Es ist doch ganz logisch, wenn man überlegt, wer einen Grund haben könnte, Helene den Tod zu wünschen. Da bleiben nicht viele. Helene hatte keine Feinde.«
»Und wer bliebe dann noch?« Julius hatte die Schranktür inzwischen geschlossen und lehnte sich dagegen, um Sophie bei ihrem Artistenstück zuzusehen, wie sie auf dem Stuhl balancierte und versuchte, einen Blick auf die Oberseite des Regals zu erhaschen.
»Vorausgesetzt, es gibt tatsächlich jemanden, der ihr nach dem Leben trachten könnte, dann fiele mir nur eine Person ein.« Sophie streckte den Arm aus, um auch den hinteren Teil abzutasten, der im Schatten eines Balken lag. »Ihre Stiefmutter. Katharina. Sie und Helene hassten sich, und vielleicht hat Katharina befürchtet, Helene könnte ihren Vater gegen sie aufbringen.«
Julius runzelte die Stirn. »Interessante Idee, aber es scheint mir unwahrscheinlich, dass Frau Wittgen in der Lage wäre, Helene in die Lahn zu werfen.«
»Sie könnte einen Helfer gehabt haben. Oder … « Sophie stieß einen spitzen Schrei aus und prallte zurück. Wild ruderte sie mit den Armen durch die Luft und wäre gefallen, wenn Julius nicht mit einem Satz bei ihr gewesen wäre.
»Pass auf!«, herrschte er sie an und trat zurück, nachdem er sich vergewissert hatte, dass ihr nichts geschehen war. »Du brichst dir noch den Hals!«
»Da … da ist etwas!«
Julius warf ihr einen zweifelnden Blick zu. Mit einem knappen Wink scheuchte er sie vom Stuhl und kletterte selbst hinauf. »Was soll da schon sein außer Spinnweben und … « Er stockte, als er etwas Hartes, Pelziges unter seinen tastenden Fingern spürte. Wortlos griff er nach einem Roman aus dem Regal und angelte damit wie mit einem verlängerten Arm unter den Balken, um Sophies Fund vorsichtig hervorzuschieben.
»Und?« Sophie trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. »Was ist es?«
Julius spitzte die Lippen vor Ekel, während er das Wesen mit dem Buch vorsichtig auf den Rücken rollte. »Eine Ratte. Eine fette, tote Ratte.«
Sophie schüttelte sich angewidert, aber zu Julius’ Erleichterung fing sie nicht an zu kreischen, wie es andere Frauen vielleicht getan hätten. Nur ihre Stimme zitterte leicht. »Wie kommt die wohl dorthin?«
»Vermutlich hat sie sich dort versteckt und ist verendet.« Julius hob die Schultern und wollte
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