Die Tote im Nebel - historischer Krimanlroman
Moment auffiel: Es war kalt. Zu kalt. Nicht nur, dass der Hausherr mit dem Feuerholz geizte, es gab nichts, was die Räumlichkeiten wohnlich gemacht hätten, keine Deckchen, keine Bilder, keine Blumen und nicht einmal eine Schale mit rotbackigen Herbstäpfeln, wie sie zu dieser Jahreszeit in nahezu jeder Stube zu finden waren.
Der Hausherr stand am Fenster, als sie eintraten, den Blick hinaus auf das Lahntal gerichtet und die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Auf einem Sofa neben dem erkalteten Kachelofen saßen zwei Frauen, von denen sich eine bei ihrem Eintreten erhob.
»Doktor Laumann«, begrüßte sie Julius mit einem bemühten Lächeln. »Wir hatten noch keine Gelegenheit.«
»Frau Doktor Wittgen, nehme ich an?«, erwiderte Julius die Begrüßung steif. Es irritierte ihn, dass sie ihn empfing und nicht ihr Gatte, aber noch mehr irritierte ihn die Art, wie sie ihn ansah. Sie war überraschend jung und recht hübsch mit ihren großen, rehbrauen Augen, die einen warmen Kontrast zu den flachsblonden Locken unter der Haube bildeten. Ihre ganze Art zu sprechen, die Art, wie sie sich bewegte, hatte etwas erschreckend Sinnliches, und Julius konnte sich gut vorstellen, wie dieses junge Ding ihrem Gemahl den Kopf verdreht hatte. Sie mochte kaum älter sein als ihre Stieftochter Helene, fiel Julius auf, eine junge, erfrischende Frau. Man sah ihr an, dass es ihr schwerfiel, Trauer für das Mädchen zu heucheln.
»Katharina Wittgen«, nickte sie und deutete auf die andere Frau, die Julius interessiert musterte. »Das ist meine Freundin Emilie Breuer. Sie steht uns bei in diesen schweren Tagen.«
Julius neigte den Kopf höflich in die Richtung der Breuer, die den Gruß ebenso knapp erwiderte. Sie war älter als Katharina Wittgen, eine Frau, deren Jugend bereits verblüht, aber noch nicht verwelkt war. Sie hatte auffallend rote Backen, die im erfrischenden Widerspruch zu dem tristen Witwenschwarz standen, das sie trug.
»Es tut mir auch sehr leid, Frau Wittgen«, meldete sich Sophie und senkte den Blick auf die Hände. »Ich bin … immer noch durcheinander, wie das geschehen konnte.«
Katharina lächelte sacht. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Fräulein Dierlinger. Wir sind ebenfalls sehr traurig und mitgenommen von der schlimmen Nachricht. Was können wir denn für Sie tun, Doktor Laumann?«, erkundigte sie sich höflich.
Julius verschränkte die Arme hinter dem Rücken. »Ich habe Ihre Tochter untersucht, nachdem man sie gefunden hat, und bin auf ein paar Ungereimtheiten gestoßen. Ich hoffe, es ist für Sie erträglich, wenn ich ein paar Fragen an Sie habe?«
»Kaum, aber Sie werden sich wohl nicht abweisen lassen«, antwortete der Hausherr anstelle seiner Frau. Doktor Wittgens Stimme hatte einen angenehmen, vollen Klang, auch wenn nun Bitterkeit in ihr mitschwang. Seine Schultern hoben sich leicht unter einem tiefen Atemzug, dann drehte er sich um. Im Gegensatz zu vielen anderen Männern seines Alters, die dank ihres Wohlstandes zu einer gewissen Leibesfülle neigten, hatte sich Karl Friedrich Wittgen anscheinend die schlanke, hochgewachsene Erscheinung seiner Jugendtage erhalten. Sein aschblondes, volles Haar war nur an den Schläfen ergraut und umrahmte ein gefälliges Gesicht mit markanten Zügen, das auf Frauen zweifellos anziehend wirken mochte, auch wenn es jetzt von Kummer gezeichnet war. »Vielleicht kann ich Ihnen mit einer Auskunft dienen. Was möchten Sie wissen?«, fragte er, während er langsam neben das Sofa trat und Julius aufforderte, sich zu setzen. Seine Stimme klang erschöpft, wie nach einer langen Reise. »Ich dachte eigentlich, es sei alles geklärt.«
»Das ist es leider noch nicht ganz«, platzte Sophie dazwischen. »Helene ist nicht ertrunken, und sie …
»Sie ist ertrunken.« Wittgens Stimme war nicht laut, aber scharf genug, um Sophie verstummen zu lassen. »Man hat es mir versichert, und es gibt keinen Grund, es anzuzweifeln. Und ich bitte, unsere Trauer zu respektieren. Helene ist tot. Sie war mein einziges Kind. Lassen Sie sie in Frieden ruhen.«
»Sie haben mein ehrliches Mitgefühl«, sagte Julius und warf Sophie einen warnenden Blick zu.
Ihre Augen funkelten trotzig, aber sie versuchte nicht noch einmal, ihn zu unterbrechen.
»Ich will Ihnen kein zusätzliches Leid antun«, fuhr Julius fort. »Mir ist jedoch etwas aufgefallen, was vielleicht in einem Zusammenhang mit diesem Unfall, wie man sagt, stehen könnte. War Helene krank?«
»Das kann ich Ihnen nicht
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