Die Tote im Nebel - historischer Krimanlroman
schon ansetzen, vom Stuhl hinabzusteigen, als sein Blick noch einmal auf den schmalen Spalt zwischen Schrankoberfläche und Balken fiel. »Warte … « Er nahm das Buch wieder zur Hand und stellte sich auf die Zehenspitzen, um den hintersten Winkel zu erreichen und die verschrumpelten Überreste eines Apfels hervor zu fischen.
»Ich hab’s!«, verkündete er triumphierend und klaubte ein Taschentuch aus der Hosentasche, um die angeknabberten Apfelreste damit vorsichtig aufzunehmen. »Nun wissen wir wenigstens, woran sich die Ratte den Magen verdorben hat.«
»An einem Apfel?« Sophies feine Brauen wölbten sich skeptisch.
»An einem Apfel«, bestätigte Julius und kletterte etwas umständlich vom Stuhl, da er sich nur mit einer Hand festhalten konnte. Er deutete auf die verwaiste Schale, die auf dem Tisch stand. »Was fällt dir auf?«
»Eine leere Schale.«
»Das Offensichtliche. Was mag darin gelegen haben?«
»Birnen oder Äpfel oder … was weiß ich.« Sophie schüttelte ungehalten den Kopf. »Julius, ich mag so etwas nicht. Sag endlich, was du meinst.«
»Die Blumen.« Mit einem Schritt war Julius am Fenster und strich mit dem Finger vorsichtig über die verwelkten Blütenstände, woraufhin sich die Blütenblätter lösten und sacht zu Boden rieselten. »Jemand hat sich die Mühe gemacht, die Schale zu leeren, aber die Blumen stehen gelassen.«
»Vielleicht eine Nachlässigkeit der Magd.« Sophie hob die Schultern. »Sie scheint mir ohnehin nicht die Fleißigste zu sein.«
»Vielleicht. Vielleicht hat jemand aber auch ganz bewusst die Obstschale geleert. Weil jemand wusste, dass sich ein vergifteter Apfel darunter befand. Diese Maßnahme kam für die bedauernswerte Ratte jedoch zu spät.«
Sophie nickte leicht. Sie knetete die Unterlippe zwischen den Zähnen, den Blick nachdenklich auf die leere Schale gerichtet. »Wenn es wirklich so wäre, spräche es doch dafür, dass Katharina etwas mit Helenes Tod zu tun hat, nicht wahr?«
»Wie kommst du darauf?«
»Ich habe noch nie von einem Mann gehört, der mit Gift gemordet hätte.«
Julius’ Lippen kräuselten sich zu einem ironischen Lächeln. »Diese Logik schließt sich nahtlos an die Mutmaßungen um den bösen Wolf an. Benutze deinen Kopf, liebste Base, dafür hast du ihn. Und nun verabschieden wir uns und gehen. Ich bringe dich nach Hause.«
Widerspruch regte in Sophies Mimik, aber sie nickte nur mit zusammengekniffenen Lippen. Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich ab und verließ die Kammer.
*
Julius begleitete Sophie bis zur Haustür, schlug ihre Aufforderung, ihrer Mutter einen kurzen Besuch abzustatten, aber unter einem Vorwand in den Wind.
Sophie hatte nichts anderes erwartet, auch wenn es sie ärgerte, dass er sich so eilig verabschiedete. Er schien froh, sie endlich los zu sein.
Ihre Erinnerungen an Julius’ Zeit vor seinem Studium waren erschreckend blass, doch sie wusste aus den Erzählungen ihrer Mutter, dass er immer schon ein Eigenbrötler gewesen war, der sich wenig aus anderen Menschen machte. Vielleicht war er zu klug für seine Umwelt, hatte ihre Mutter einmal im Scherz gesagt, und Sophie war inzwischen bereit, ihr beizupflichten. Zumindest fühlte sich Julius zu klug.
So blieb ein galliger Geschmack auf der Zunge, als sie in der Hoffnung ins Haus schlüpfte, ihrer Mutter nicht gleich in die Arme zu laufen. Zu ihrer Erleichterung lagen Stube und Bibliothek verlassen. Nur aus der Küche klang ein gleichmäßiges, schmatzendes Klopfen, das verriet, dass das Hausmädchen Käthe gerade Brotteig auf einem Brett knetete.
Sophie huschte rasch die Stufen hinauf zu ihrer Kammer, wo sie ihre Schwester vorfand, die ihre Kleider auf dem Bett ausgebreitet hatte und gerade dabei war, einen Arm voll Wäsche vorsichtig in einer Tasche zu stapeln. Verwundert blieb Sophie in der Tür stehen.
»Was tust du da?«
Lisbeth schrak auf, schob sich mit dem Unterarm die Haare aus der Stirn, die sich aus dem Zopf gelöst hatten. Sie lächelte matt. »Sophie. Ich habe dich gar nicht kommen gehört. Wo warst du? Mutter hat dich gesucht.«
»Ich habe die Wittgens besucht, um Ihnen mein Beileid auszudrücken«, antwortete Sophie ausweichend und machte einen zaghaften Schritt in den Raum hinein, blieb aber stehen, als sie mit dem Fuß gegen einen Hutkarton stieß. »Wirst du verreisen?«
»Ich nehme die Postkutsche morgen früh nach Kassel.« Lisbeth seufzte leise und schob einen Wäschestapel zurecht. »Mutter hat vorhin eine Nachricht bekommen,
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