Die Tote im Nebel - historischer Krimanlroman
gelernt und gearbeitet«, nickte Julius steif. »Sie können das meinen Papieren entnehmen. Die Befähigung, ein guter Arzt zu sein, hängt meines Erachtens jedoch nicht mit dem Ort der Ausbildung zusammen, sondern ist eine Sache der Eignung und des Genius’.«
Irgendwer sog die Luft zischend zwischen den Zähnen ein, und es kam wieder Gemurmel auf. Michaelis machte jedoch keine Anstalten, für Ruhe zu sorgen, sondern fixierte Julius aus leicht verengten Augen. »Ihr Genius interessiert uns nicht. Wir kennen Ihre Papiere, die Empfehlungen sowie deren Provenienz, die uns letztendlich bewogen haben, Sie mit dieser Stelle zu betrauen. Dennoch – oder gerade deswegen – fragen wir uns, woher Sie die Kühnheit nehmen zu glauben, dass die Kurfürstlichen Verordnungen nicht für Sie gelten.« Michaelis machte eine kurze Pause, um seine Worte sacken zu lassen, fuhr jedoch fort, ehe Julius etwas erwiderte. »Sie sind seit gestern Morgen in der Stadt und haben noch am gleichen Tag ohne Berechtigung Aufgaben wahrgenommen, die dem Stadtphysikus obliegen«, sagte er hart. »Ehe wir Ihnen die Prüfung gestatten, erwarten wir eine Erklärung für Ihr Verhalten.«
Julius atmete tief durch die Nase ein. Sein Blick glitt zu Baldinger, der regungslos auf seinem Platz saß und ihn aufmerksam beobachtete. Julius wusste, dass er in dem alten Professor einen mächtigen Protegé hatte, der wahrscheinlich im Hintergrund bereits die Fäden zu seinen Gunsten gezogen hatte. Doch jetzt musste er sich allein behaupten.
»Ich nehme an, dass jeder der Anwesenden über Doktor Hirschners Zustand informiert ist«, begann er mit fester Stimme. »Ich war es zuvor nicht, aber die Begegnung mit Hirschner hat mir deutlich vor Augen geführt, wie notwendig die Zuweisung eines Adjunkts ist. Deshalb habe ich nicht gezögert, Wachtmeister Schmitt zu begleiten. Es wäre unverantwortlich gewesen, Doktor Hirschner den Marsch zu den Afföllerwiesen zuzumuten. Die Dringlichkeit ließ nicht zu, zuvor um eine Prüfung meiner Befähigung zu ersuchen.«
Wieder kam Gemurmel auf, das Michaelis dieses Mal unterband, indem er mit der Handfläche auf seinen Tisch klopfte. »Gut und schön«, wandte er sich an Julius, »aber nachdem die Leiche in die Anatomie verbracht worden war, überließen Sie die Arbeit nicht dem dazu ausgebildeten und geprüften Chirurgen Johannes Decker oder riefen wenigstens einen anderen – anerkannten – Arzt hinzu, sondern beharrten darauf, die Untersuchung selbst fortzusetzen.«
Julius nickte steif. »Der Tod des Mädchens wirft eine Reihe von Fragen auf. Ich habe Zweifel, dass Herr Decker oder ein anderer Arzt die Dringlichkeit erkennt.«
»Sie haben Ihre Kompetenzen weit überschritten.«
»Ich habe das getan, was notwendig ist, um die Wahrheit ans Licht zu bringen«, widersprach Julius. »Ich bin davon überzeugt, dass das Mädchen umgebracht wurde, und ich werde es beweisen, wenn man mir die Gelegenheit dazu gibt.«
Das Gemurmel hob erneut an, schärfer dieses Mal, sodass Michaelis mehrere Male auf den Tisch klopfen musste, bis es wieder ruhig wurde.
»Sie werden jetzt hinausgehen und warten, bis wir beraten haben, was geschehen soll«, wandte er sich an Julius. Seine Mimik schien gefroren. »Sie bewegen sich auf dünnen Eis, Laumann. Ich hoffe, Sie sind sich dessen bewusst.«
Julius nickte knapp und folgte dem Dienstboten hinaus in einen Vorraum, wo man ihn warten hieß. Durch ein Fenster fiel sattes Herbstlicht in den kleinen Raum und malte ein goldenes Viereck auf den Fußboden. Gedankenverloren folgte sein Blick den winzigen Staubkörnchen, die sich in den Sonnenstrahlen glitzernd bewegten. Er sollte angespannt sein oder unruhig, schließlich beriet man gerade über seine Zukunft. Die Anstellung als zukünftiger Stadtphysikus war ein Geschenk, für das er dankbar sein sollte, anstatt es leichtfertig zu verspielen. Trotzdem war ihm die Entscheidung gleichgültig, da es nicht in seiner Macht lag, sie zu beeinflussen. Vielleicht hätte er unter anderen Umständen eher versucht zu sagen, was sie hören wollten, aber es widerstrebte ihm, die Wahrheit zu verleugnen, um sich kleinlich seine Pfründe zu sichern. Sollten sie ihm die Anstellung verweigern, würde er versuchen, den Tod des Mädchens zu klären, ehe er weiterzog – vielleicht zurück nach Paris, vielleicht nach Köln oder Prag oder Wien. Seinem Vater würde es nicht gefallen, aber es war nie sein Anliegen gewesen, seinen Vater glücklich zu machen. Das hatten seine
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