Die Tote im Nebel - historischer Krimanlroman
Ungeduldig blickte sie über die Schulter, trat von einem Fuß auf den anderen. Sie sollte noch einmal versuchen, mit Katharina zu reden, beschloss Sophie im Stillen. Sie hatte keine Ahnung, was Julius vorhatte, aber wenn ihr Herr Vetter sich nicht genötigt sah, mit ihr zu sprechen, dann musste sie eben auf eigene Faust handeln.
*
Hans hatte sich im Schatten eines Baumes versteckt. Regungslos hatte er dort gewartet, während der Pfarrer geredet hatte und kein Ende zu finden schien. Seine Kleidung war vollkommen durchnässt und klebte ihm auf der Haut, er fror erbärmlich, aber er konnte nicht gehen. Nicht, ehe er seiner Prinzessin nicht Lebewohl gesagt hatte. Wenn er sich nicht bewegte, ertrug er die Kälte leichter und es bemerkte ihn niemand. Er wollte nicht, dass sie ihn sahen. Der Gedanke, dass man sie nun in dieses nasse, kalte Loch hinabließ, ließ sein Herz gefrieren. Wenigstens wusste er, wo sie ruhte. Hier konnte er sie besuchen, wann immer er wollte, und niemand würde ihn davon abhalten.
Hans’ Zähne schlugen klappernd aufeinander, er versuchte, dagegen anzukämpfen, Kälte und Anspannung waren übermächtig. Sie sollten endlich gehen und seine Prinzessin allein lassen, diese elenden Heuchler und Mörder. Doch er musste warten, ausharren, während sie die Trauernden spielten und insgeheim dem Leichenschmaus entgegensehnten.
Endlich verstreute sich die Menge und hastete durch den Regen davon. Zwei Totengräber mit tief ins Gesicht gezogenen Hüten blieben zurück, um das Grab zuzuschaufeln, bis auch sie schließlich verschwanden. Als Hans aus seinem Versteck trat, musste er acht geben, dass er mit seinen steifgefrorenen Gelenken nicht stolperte. Das Gras hatte sich unter den Schuhen der Trauergäste in braunen, klebrigen Schlamm verwandelt, der bei jedem Schritt an Hans’ Füßen haften blieb. Langsam trat er näher, die Finger fest um die Stiele der Herbstblumen gedrückt. Eigentlich hatte er sie ins Grab werfen wollen, doch nun würde er sie auf der frischen Erde ablegen. Er könnte jede Woche herkommen und neue bringen, Blumen oder hübsche Steine, wenn sich im Winter der Schnee über die Blüten gelegt hatte. Sie würde wissen, dass er sie nicht vergessen hatte.
Schlamm quoll unter seinen Schuhen hervor, als er schließlich am Grab stehen blieb. Langsam ging er in die Knie, senkte den Kopf zum Gebet. »Heiliger Herr Jesus … «, begann er, stockte dann, als er plötzlich Stimmen vernahm. Vielleicht waren sie die ganze Zeit dagewesen, verdeckt durch das Geräusch des Regens, doch jetzt wurden sie lauter. Eine Frauenstimme, grell vor Erregung, und dazwischen das tiefe Brummen eines Mannes. Vorsichtig wandte Hans den Blick in die Richtung, aus der die Stimmen kamen. Er erkannte die beiden nicht sofort. Sie standen halb hinter einem Baum verborgen, vielleicht schon die ganze Zeit. Die Frau schnitt mit den Armen aufgebrachte Gesten in die Luft, während der Mann entschieden den Kopf schüttelte.
Dann brach das Schimpfen mit einem Mal ab, und die beiden drehten sich zu ihm um. Eine eisige Faust umschloss Hans’ Herz, als er begriff, dass sie ihn bemerkt hatten. Einen Moment lang starrten sie einander stumm an, zwischen ihnen der graue Regen, der Konturen und Gesichter verwischte. Dennoch erkannte Hans mit einem Mal, wen er dort vor sich hatte.
Er rutschte beinahe aus, als er aufsprang. Der Mann ließ die Frau stehen und machte einen Schritt auf ihn zu, rief etwas, was Hans nicht richtig verstand. Fuchs, der rothaarige Fuchs, rauschte es in seinem Kopf, während er rückwärts stolperte. Er hatte Fuchs oft gesehen, wie er um Wittgens Haus geschlichen war. Manchmal hatte er mit dem Dienstmädchen gesprochen, vertraulich, als kannten sie sich, manchmal auch mit Frau Wittgen. Und jetzt war er hier, anstatt sich ins Trockene zu flüchten wie all die anderen. Hans verstand nicht, was das zu bedeuten hatte, aber er wollte nicht mit Fuchs reden. Der Rothaarige machte Hans Angst, man erzählte schlimme Geschichten über ihn, dass Hans sich ohnehin schon gewundert hatte, was er ständig im Haus der Wittgens trieb.
Wieder rief Fuchs ihn an, aber Hans schüttelte nur den Kopf. Die Blumen entglitten seiner Hand, als er sich umdrehte und davonrannte. Die durchnässte Jacke schlug schwer an seine Seiten, Wasser rann ihm über das Gesicht, während er zum Friedhofstor hastete und mit einem Satz über den Zaun setzte. Irgendwo hinter sich hörte er Fuchs noch rufen, doch er hielt sich die Ohren zu beim Laufen.
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