Die Tote im Ritz - Ein Fall fuer Detective Joe Sandilands
Abend im Hotel war.« Joe schüttelte den Kopf. »Es ist über eine Stunde her, seit sie ermordet wurde. Und dieser Ort ist ein Bienenstock. Nein, eher ein Sieb. Sollen wir es zugeben? Jeder der vielen hundert Menschen, die sich an diesem Abend im Gebäude befanden, hätte unbemerkt hierher schleichen und gleichermaßen unauffällig wieder verschwinden können. Es liegen viele Stunden Arbeit vor uns und alles mit größter Diskretion.«
Er und Armitage tauschten einen festen Blick aus, dachten einen Augenblick über den vor ihnen liegenden Berg an Routineaufgaben nach, die nichtsdestotrotz heikel waren.
»Überlassen Sie das mir, Sir«, erklärte Armitage mit stiller Entschlossenheit. »Ich denke, ich kann das schaffen.«
Joe lächelte. Er wusste, dass er das konnte.
Nachdem der Sergeant und sein Helfer den Raum verlassen hatten, nahm sich Joe die Freiheit, Dame Beatrice näher unter die Lupe zu nehmen. »Wie Boadicea«, hatte Sir Nevil gesagt, fiel Joe wieder ein, als er voller Überraschung und Mitgefühl auf sie herabschaute. Was hatte er erwartet? Ihr Ruf und ihr Rang hatten ihn zu der Ansicht verleitet, er habe es mit einer alten Jungfer im Tweedkostüm mit Eisenblick und Damenbart zu tun, aber die Leiche vor ihm rief auf den ersten Blick eine blassgesichtige, melancholisch blickende und offen erotische Frau in Erinnerung, die er auf einem Gemälde eines österreichischen Malers gesehen hatte, auf dessen Namen er gerade nicht kam. »Dekadent«, war das Wort, das einem dazu einfiel. Ihre dunkelroten Haare, unmodisch lang, lagen weit ausgebreitet, zerzaust und blutgetränkt, ein passender Rahmen für die zerschmetterte, verzerrte, weiße Maske aus Wut und Hass, die sie umgaben. So musste die Königin der Ikener ausgesehen haben, dachte Joe, als sie den römischen Legionen zähnefletschend ihren Widerstand verkündete.
Dame Beatrice trug ein Abendkleid, ein knöchellanges Kleid aus grünem Taft. Joe kniete neben der Leiche, stellte angeekelt fest, dass ihr Mieder aufgerissen worden war. Die Träger an beiden Schultern waren mit beträchtlicher Kraft abgerissen worden, und ihre kleinen, weißen Brüste lagen frei. Der Drang, ihre Nacktheit zu bedecken, war beinahe überwältigend, aber Joe stählte sich, nur zu beobachten und festzuhalten.
Seine Scham steigerte sich, als Constable Westhorpe sich ihm anschloss. Eine wohlerzogene, junge Frau hätte auf Abstand bleiben sollen, hätte so tun sollen, als schaue sie in die andere Richtung, hätte vielleicht sogar mit schwacher Stimme nach Riechsalz verlangen sollen, dachte er verstimmt.
»Furchtbarer Anblick«, sagte er und hätte gern mehr gesagt. Hätte gern vorgeschlagen, sie solle den nächsten, verstörenden Teil der Ermittlung ihm überlassen, aber sie sah ganz ruhig auf die Leiche hinab.
»Fällt einem beim Anblick der Dame nicht der Maler Gustav Klimt ein?«, fragte er laut, um den peinlichen Moment zu überspielen. Zu spät fiel ihm ein, dass die Erwähnung eines ausländischen Malers, der als dekadent galt, für eine junge Dame von Tilly Westhorpes Herkunft notgedrungen beleidigend und schockierend sein musste. Aber mit etwas Glück hatte sie von dem Kerl noch nie gehört.
Constable Westhorpe dachte kurz nach. »O ja, ich verstehe … Sie denken an Der Kuss ? Ich glaube, es ist der Winkel des Kopfes. Nein … ich hätte eher an Dante Gabriel Rossetti gedacht. Sein dunkelster Albtraum.« Sie sah versteinert auf die zerschmetterten Gesichtszüge, und dann, gefangen von einer Gefühlsregung, die Joe nicht entziffern konnte, sprach sie erneut, wie zu sich selbst.
»Böser, böser alter Teufel!«, stieß sie voller Leidenschaft aus. »Ermordet zu werden war noch zu gut für sie!«
3. KAPITEL
Joe ließ die Worte einen Augenblick zwischen ihnen in der Luft hängen, erstaunt und besorgt.
»Ist das ein guter Moment, um zu erklären, wie gut Sie Dame Beatrice kannten, Westhorpe? Und aus welchem persönlichen Grund Sie hierher gekommen sind und sie sprechen wollten? Sir Nevil hat darum geben, Sie in die Ermittlungen einzuschalten, aber wenn es auch nur den Hauch einer Andeutung gibt, dass Ihr Interesse nicht professioneller Natur sein könnte, werde ich Sie bitten müssen, sich herauszuhalten.«
Tilly Westhorpe wandte ihren Blick ruhig von dem Leichnam ab und richtete ihn auf Joe. Sie sah ihn direkt und eindringlich an, so dass er sich wie im Verhör vorkam. »Soweit ich weiß, war ich ihr völlig unbekannt. Auf der heutigen Gesellschaft habe ich sie das
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