Die Tote ohne Namen
zwei Wochen vorher.« Er dachte angestrengt nach, ein merkwürdiger Ausdruck war auf seinem Gesicht.
»Wo war sie?«
»Sie rief aus New York an.«
»Wissen Sie, was sie dort getan hat, Mr. Gault?«
»Ich weiß nie, was sie tut. Um die Wahrheit zu sagen, ich glaube, sie treibt sich herum und ruft an, wenn sie Geld braucht.« Er blickte zu einem schneeweißen Silberreiher, der auf einem Baumstumpf stand.
»Als sie aus New York anrief, hat sie da um Geld gebeten?« »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich rauche?« »Selbstverständlich nicht.«
Er holte eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche und kämpfte damit, sie in dem Wind anzuzünden. Er drehte sich hin und her, und schließlich hielt ich eine Hand über seine, damit er das Zündholz entfachen konnte. Er zitterte.
»Die Sache mit dem Geld ist sehr wichtig«, sagte ich. »Wieviel und wie hat sie es bekommen?« »Rachael kümmert sich darum.«
»Hat Ihre Frau das Geld geschickt? Oder einen Scheck?«
»Sie kennen meine Tochter nicht. Ihr würde niemand Bargeld für einen Scheck geben. Rachael schickt ihr regelmäßig Geld. Wissen Sie, Jayne muß ständig Medikamente nehmen, damit sie keine Anfälle bekommt. Die Kopfverletzungen sind schuld daran.«
»Wohin schickt Ihre Frau das Geld?«
»Sie schickt es über ein Western-Union-Büro. Rachael kann Ihnen sagen, welches.« »Was ist mit Ihrem Sohn? Haben Sie Kontakt zu ihm?« Seine Miene wurde hart. »Überhaupt keinen.« »Wollte er nie nach Hause kommen?« »Nein.«
»Weiß er, daß Sie jetzt hier leben?«
»Der einzige Kontakt mit Temple, den ich mir vorstellen kann, ist, ihn mit einer doppelläufigen Flinte zu erschießen.« Er biß die Zähne zusammen. »Es ist mir scheißegal, daß er mein Sohn ist.«
»Wissen Sie, daß er Ihre AT&T-Karte benützt?« Mr. Gault richtete sich auf und schnippte Asche ab, die der Wind wegwehte. »Das kann nicht sein.«
»Ihre Frau zahlt die Rechnungen?« »Ja, diese Rechnungen bezahlt sie.« »Ich verstehe.«
Er warf die Zigarette in den Sand, und sofort nahmen sich die Krabben ihrer an.
»Jayne ist tot, nicht wahr?« sagte er. »Sie sind Gerichtsmedizinerin, und deswegen sind Sie hier.«
»Ja, Mr. Gault. Es tut mir furchtbar leid.«
»Ich habe es mir schon gedacht, als Sie sagten, wer Sie sind. Mein kleines Mädchen ist die Frau, die Temple im Central Park umgebracht hat.«
»Deswegen bin ich hier. Aber ich brauche Ihre Hilfe, wenn ich beweisen will, daß sie Ihre Tochter ist.«
Er schaute mir in die Augen, und ich sah seine große Erleichterung. Er riß sich zusammen, und ich spürte seinen Stolz. »Ma'am, ich will nicht, daß sie in irgendeinem gottverdammten Armengrab liegt. Ich will sie hier bei Rachael und mir. Jetzt kann sie wieder zu uns kommen, er kann ihr nichts mehr tun.«
Wir gingen den Pier zurück.
»Dafür kann ich sorgen«, sagte ich. Der Wind wehte über das Gras und durch unser Haar. »Ich brauche lediglich eine Blutprobe von Ihnen.«
18
Bevor wir ins Haus gingen, warnte Mr. Gault mich, daß seine Frau mit der Situation nicht zurechtkäme. Er erklärte mir so diskret wie möglich, daß Rachael Gault dem schrecklichen Schicksal ihrer Kinder nie wirklich ins Auge gesehen hatte.
»Es ist nicht so, daß sie einen Anfall bekommt«, sagte er leise, als wir die Treppe hinaufgingen. »Sie kann es nur einfach nicht akzeptieren.«
»Vielleicht wollen Sie die Fotos hier draußen anschauen?« »Fotos von Jayne?« Er sah wieder sehr müde aus. »Von ihr und von Fußspuren.«
»Fußspuren?« Er fuhr sich mit schwieligen Fingern durchs Haar.
»Erinnern Sie sich daran, ob sie ein Paar Armeestiefel besessen bat?« fragte ich.
»Nein.« Er schüttelte bedächtig den Kopf. »Aber Luther hatte eine ganze Menge von dem Zeug.«
»Wissen Sie, was für eine Schuhgröße Luther hatte?«
»Er hatte kleinere Füße als ich. Vermutlich Größe 40 1/2 oder 41.«
»Hat er Temple jemals ein Paar von seinen Stiefeln geschenkt?«
»Nein. Luther hätte Temple mit seinen Stiefeln höchstens einen Tritt in den Hintern gegeben.«
»Die Stiefel hätten also Jayne gehören können.«
»Ja. Sie und Luther hatten ungefähr die gleiche Schuhgröße. Sie war ziemlich groß. Etwa so groß wie Temple. Und ich habe immer schon vermutet, daß das für ihn ein Problem war.«
Mr. Gault hätte am liebsten den ganzen Tag im Wind gestanden und geredet. Er wollte nicht, daß ich meine Aktentasche öffnete, weil er wußte, was darin war.
»Sie müssen sich die Fotos nicht ansehen«,
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