Die Tote ohne Namen
sagte ich. »Wir können auch eine DNS-Analyse machen.«
»Wenn das geht«, sagte er erleichtert und machte die Tür auf. »Ich werde Rachael Bescheid sagen.«
Die Eingangshalle des Gaultschen Hauses war weiß gestrichen. Ein alter Messingleuchter hing von der hohen Decke, und eine elegante Wendeltreppe führte in den ersten Stock. Das Wohnzimmer war eingerichtet mit englischen Antiquitäten, Perserteppichen, und an den Wänden hingen hervorragende Ölgemälde. Rachael Gault saß auf einem strengen Sofa und stickte. Durch einen großen Rundbogen sah ich, daß auf den Eßzimmerstühlen gestickte Deckchen lagen.
»Rachael?« Mr. Gault stand vor ihr wie ein schüchterner Junggeselle mit dem Hut in der Hand. »Wir haben Besuch.«
Sie stach mit der Nadel in die Vorlage. »Oh, wie nett.« Sie lächelte und legte ihre Arbeit beiseite.
Rachael Gault mußte einst eine blonde, hellhäutige und helläugige Schönheit gewesen sein. Mich faszinierte, daß Temple und Jayne ihr Aussehen von Mutter und Onkel geerbt hatten, aber ich verbot mir jegliche Spekulation und schrieb es den Mendelschen Gesetzen zu.
Mr. Gault setzte sich ebenfalls aufs Sofa und bot mir einen Sessel an.
»Wie ist das Wetter draußen?« fragte Mrs. Gault mit dem hypnotischen Tonfall des tiefen Südens. Sie hatte das gleiche schmallippige Lächeln wie ihr Sohn. »Gibt es noch Krabben?« Sie sah mich an. »Ich weiß Ihren Namen gar nicht. Peyton, sei nicht so unhöflich. Stell mich deiner neuerworbenen Freundin vor.«
»Rachael«, versuchte es Mr. Gault noch einmal. Er legte die Hände auf die Knie und ließ den Kopf sinken. »Sie ist eine Ärztin aus Virginia.«
»Ja?« Ihre zierlichen Hände zogen an dem Deckchen in ihrem Schoß.
»Sie arbeitet für das Gericht.« Er sah seine Frau an. »Liebling, Jayne ist tot.«
Mrs. Gault begann, mit flinken Fingern wieder zu sticken. »Wissen Sie, im Garten stand ein Magnolienbaum, der fast hundert Jahre alt war. Aber im Frühjahr hat der Blitz darin eingeschlagen. Können Sie sich das vorstellen? Manchmal gibt es hier Stürme. Wie ist es dort, wo Sie herkommen?«
»Ich komme aus Richmond«, sagte ich.
»O ja«, sagte sie, und ihre Finger bewegten sich noch schneller. »Sehen Sie, wir hatten Glück, daß im Krieg nicht alles abgebrannt ist. Sie haben bestimmt einen Urgroßvater, der im Krieg gekämpft hat.«
»Ich habe italienische Vorfahren«, sagte ich. »Ursprünglich bin ich aus Miami.«
»Dort unten wird es bestimmt sehr heiß.«
Mr. Gault saß hilflos auf dem Sofa. Er hatte es aufgegeben, jemanden anzuschauen.
»Mrs. Gault«, sagte ich. »Ich habe Jayne in New York gesehen.«
»Wirklich?« Sie schien erfreut. »Erzählen Sie mir davon.« Ihre Hände waren wie Kolibris.
»Als ich sie sah, war sie schrecklich dünn, und sie hatte sich das Haar geschnitten.«
»Sie ist nie zufrieden mit ihrem Haar. Als sie es kurz trug, sah sie aus wie Temple. Sie sind Zwillinge, und die Leute haben sie oft verwechselt und gedacht, sie sei ein Junge. Deswegen hat sie es sich immer lang wachsen lassen, und es überrascht mich, daß sie es wieder kurz geschnitten hat.«
»Sprechen Sie manchmal mit Ihrem Sohn?« fragte ich.
»Er ruft nicht so oft an, wie er sollte, der ungezogene Junge. Aber er weiß, daß er immer anrufen kann.«
»Jayne hat Sie kurz vor Weihnachten angerufen.«
Sie schwieg.
»Hat sie gesagt, daß sie ihren Bruder getroffen hat?« Sie schwieg.
»Er war nämlich auch in New York.«
»Ja, ich habe ihm gesagt, er soll seine Schwester besuchen und ihr frohe Weihnachten wünschen«, sagte Mrs. Gault, und ihr Mann zuckte zusammen.
»Sie haben ihr Geld geschickt?« fuhr ich fort.
Sie sah zu mir. »Jetzt werden Sie aber ein bißchen indiskret.«
»Ja, Ma'am, ich fürchte, ich muß indiskret werden.«
Sie fädelte einen blauen Faden in die Nadel.
»Ärzte müssen indiskrete Fragen stellen. Das gehört zu unserem Beruf«, versuchte ich es.
Sie lachte kurz. »Tja, das stimmt. Deswegen gehe ich vermutlich auch nicht gern zum Arzt. Sie glauben, sie können alles mit Magnesium heilen. Peyton? Würdest du mir ein Glas Wasser mit etwas Eis holen? Und frage auch unseren Gast, ob sie was möchte.«
»Nein, danke«, sagte ich, als er aufstand und widerstrebend den Raum verließ.
»Das ist sehr nett von Ihnen, daß Sie Ihrer Tochter Geld schicken«, sagte ich. »Wie machen Sie das nur in einer so großen und geschäftigen Stadt wie New York?«
»Ich schicke es immer über ein Western-Union-Büro.«
»Wohin
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