Die Tote ohne Namen
einwählen.«
»Eine andere Möglichkeit gibt es nicht«, sagte ich.
»Hm« - sie atmete tief durch -, »theoretisch ist es möglich, mit einem Funkempfänger über die Van-Eck-Strahlung die Tastatureingabe aufzufangen. Sowjetische Agenten haben das vor nicht allzu langer Zeit getan.«
»Aber damit kommt man doch nicht ins System«, sagte ich.
»Man könnte Paßwörter und andere Informationen aufschnappen, die einem den Zugang ermöglichen, wenn man die Nummer kennt, mit der man sich einwählt.«
»Aber das wurde doch alles nach dem Einbruch verändert, oder?«
»Natürlich. Ich habe so gut wie alles geändert, und die Nummer wurde seither ebenfalls mehrmals geändert. Außerdem haben wir Rückrufmodems. Jemand ruft CAIN an, und CAIN ruft zurück, um sicherzugehen, daß der Anrufer befugt ist.« Sie wirkte entmutigt und wütend.
»Wenn man ein Programm mit einem Virus infiziert«, sagte ich in dem Versuch zu helfen, »dann verändert das doch die Größe der Datei, oder? Könnte man auf die Art nicht herausfinden, wo der Virus steckt?«
»Ja, der Umfang der Datei ändert sich. Aber das Problem besteht darin, daß das UNIX-Programm, das Dateien daraufhin überprüft - es heißt checksum -, kryptographisch nicht sicher ist. Ich bin überzeugt, daß wer immer den Virus installiert hat, eine checksum, das heißt eine Kontrollsumme, hinzugefügt hat, die die Bytes des Virusprogramms zum Verschwinden bringen.«
»Das heißt, der Virus ist unsichtbar.«
Sie nickte zerstreut, und ich wußte, daß sie an Carrie dachte. Dann tippte Lucy ein who, um zu sehen, wer angemeldet war. New York war online, ebenso Charlotte und Richmond, und Lucy zeigte mir ihre Modems. Lichter tanzten über die Modemfronten, während Daten über Telefonleitungen übertragen wurden.
»Wir sollten zum Essen gehen«, sagte ich leise zu meiner Nichte.
Sie tippte weitere Befehle. »Ich habe keinen Hunger.«
»Lucy, du darfst nicht zulassen, daß diese Sache dein ganzes Leben bestimmt.«
»Das mußt ausgerechnet du sagen.«
Sie hatte recht.
»Krieg ist erklärt worden«, sagte sie. »Es herrscht Krieg.«
»Das ist nicht Carrie«, sagte ich von der Frau, die, wie ich vermutete, mehr als nur eine Freundin gewesen war.
»Es ist egal, wer es ist.« Sie fuhr fort zu tippen.
Aber das stimmte nicht. Carrie Grethen ermordete keine Menschen und verstümmelte keine Leichen. Das tat Temple Gault.
»Vermißt du seit dem Einbruch auch noch andere Dinge?« versuchte ich es noch einmal.
Sie hielt inne und sah mich mit funkelnden Augen an.
»Ja, wenn du es genau wissen willst. Ich hatte einen großen Umschlag, den ich weder hier noch in meinem Zimmer an der Uni lassen wollte wegen der vielen Leute, die hier wie dort ein und aus gehen. Es waren persönliche Dinge. Ich dachte, mein Schreibtisch sei der sicherste Ort.«
»Was war in dem Umschlag?«
»Briefe, Notizen, verschiedene Dinge. Einige davon waren von dir, darunter der Brief mit dem Foto und der Kreditkarte. Die meisten waren von ihr.« Sie wurde rot. »Ein paar Karten von Großmutter.«
»Briefe von Carrie? Warum hat sie dir geschrieben? Ihr wart doch beide hier in Quantico, und vor letztem Herbst habt ihr euch doch gar nicht gekannt.«
»In gewisser Weise haben wir uns schon vorher gekannt«, sagte sie und wurde noch röter.
»Wie das?« fragte ich erstaunt.
»Wir haben uns über eine Computer-Mailbox, so eine Art Schwarzes Brett, kennengelernt, über Prodigy, letzten Sommer. Ich habe alle Ausdrucke von der Post, die wir uns geschickt haben, aufgehoben.«
»Habt ihr es gezielt arrangiert, daß ihr in der ERF zusammenarbeiten könnt?« fragte ich sie, zunehmend ungläubig.
»Ihre Anstellung beim FBI war schon am Laufen«, antwortete Lucy. »Sie hat mich dazu ermuntert, mich um eine Praktikantenstelle zu bewerben.«
Ich schwieg.
»Wie hätte ich es wissen sollen?« fragte sie.
»Vermutlich hast du es nicht wissen können. Aber sie hat es arrangiert, Lucy. Sie wollte, daß du hier arbeitest. Das war lange geplant, noch bevor sie dich über Prodigy kennenlernte. Wahrscheinlich kannte sie Gault schon aus diesem Spy-Shop in Nord-Virginia, dann beschlossen sie, daß sie dich kennenlernen sollte.«
Sie starrte zornig ins Leere.
»O Gott«, sagte ich und seufzte laut. »Du bist hierhergelockt worden.« Mir war nahezu schlecht. »Und das nicht nur, weil du gut bist. Sondern auch meinetwegen.«
»Versuch nicht, dir die Schuld in die Schuhe zu schieben. Das kann ich nicht ausstehen.«
»Du
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