Die Tote ohne Namen
bist meine Nichte. Gault weiß das wahrscheinlich seit geraumer Zeit.«
»Ich habe einen Namen in der Computerwelt.« Sie sah mich trotzig an. »Computerspezialisten haben von mir gehört. Es ist nicht immer alles deinetwegen.«
»Weiß Benton, wie du Carrie kennengelernt hast?«
»Ich habe es ihm vor langem erzählt.«
»Warum hast du es mir nicht erzählt?«
»Ich wollte es nicht. Es ging mir auch so schon schlecht genug. Es ist persönlich.« Sie sah mich nicht an. »Mr. Wesley und ich haben darüber gesprochen. Und was wichtiger ist, ich habe nichts Unrechtes getan.«
»Willst du damit sagen, daß der große Umschlag seit dem Einbruch verschwunden ist?«
»Ja.«
»Warum sollte ihn jemand an sich nehmen wollen?« »Sie wollte ihn haben«, sagte sie voll Bitterkeit. »Es waren die Dinge darin, die sie mir geschrieben hatte.«
»Hat sie seitdem versucht, Kontakt zu dir aufzunehmen?« »Nein«, sagte sie, als haßte sie Carrie Grethen. »Komm«, sagte ich im entschiedenen Tonfall einer Mutter. »Suchen wir Marino.«
Er war im Aufenthaltsraum, wo ich ein Zima probierte und er sich ein zweites Bier bestellte. Lucy suchte Janet, und so hatten Marino und ich ein paar Minuten für uns.
»Ich verstehe nicht, wie du dieses Zeug trinken kannst«, sagte er und deutete auf mein Getränk.
»Ich verstehe auch nicht, wie ich so was trinken kann, weil ich es noch nie probiert habe.« Ich trank einen Schluck. Es schmeckte gut, und das gab ich ihm zu verstehen.
»Vielleicht solltest du es erst mal probieren, bevor du ein Urteil abgibst«, fügte ich hinzu.
»Ich trinke kein Lesbenbier. Ich muß nicht alles probieren, um zu wissen, daß es nichts für mich ist.«
»Einer der wesentlichen Unterschiede zwischen uns besteht darin, daß ich mir nicht ständig Gedanken darüber mache, ob die Leute mich für homosexuell halten.«
»Manche Leute halten dich dafür«, sagte er.
Das amüsierte mich. »Du kannst beruhigt sein, keiner denkt das von dir«, sagte ich. »Die meisten Menschen halten dich allerdings für bigott.«
Marino gähnte, ohne sich die Hand vor den Mund zu halten. Er rauchte und trank Budweiser aus der Flasche. Er hatte dunkle Ringe um die Augen, und obwohl ich über die intimen Details seiner Beziehung zu Molly noch nicht Bescheid wußte, erkannte ich die Symptome von jemandem, der sich der Wollust hingibt. Bisweilen sah er aus, als tue er seit Wochen nichts anderes.
»Geht es dir nicht gut?« fragte ich ihn.
Er stellte die Flasche ab und blickte sich um. Der Aufenthaltsraum war voll frischgebackener Agenten und Polizisten, die vor dem Fernseher Bier tranken und Popcorn aßen.
»Ich bin geschafft«, sagte er und wirkte dabei sehr zerstreut. »Um so dankbarer hin ich, daß du mich abholst.«
»Kneif mich einfach, wenn ich am Steuer einschlafe. Oder noch besser, du fährst. In dem, was du da trinkst, ist wahrscheinlich eh kein Alkohol.«
»O doch, genug. Ich werde nicht fahren, und wenn du so müde bist, sollten wir vielleicht über Nacht hierbleiben.«
Er stand auf, um sich noch ein Bier zu holen. Ich sah ihm nach. Marino würde heute abend kein angenehmer Zeitgenosse sein. Ich spürte seine Sturmtiefs besser heraufziehen als jeder Meteorologe.
»Wir haben einen Laborbericht aus New York bekommen, der dich vielleicht interessieren wird«, sagte er, als er sich wieder setzte. »Es geht um Gaults Haare.«
»Die Strähne, die sie im Brunnen gefunden haben?«
»Ja. Und ich kann mich nicht so wissenschaftlich genau ausdrücken, wie du das gern hättest, okay? Da mußt du schon selber in New York anrufen. Aber das Wesentliche ist, daß sie Drogen in seinem Haar gefunden haben. Sie sagen, daß er getrunken und Koks genommen haben muß, damit dieser Stoff in seinen Haaren ist.«
»Dann haben sie Cocaäthylen gefunden«, sagte ich.
»Ja, ich glaube, so hieß das Zeug. Sein ganzes Haar ist voll davon, von der Wurzel bis zur Spitze. Das heißt, daß er schon eine ganze Weile trinkt und Drogen nimmt.«
»Man kann nicht mit Sicherheit sagen, wie lange«, sagte ich.
»Der Mann, mit dem ich gesprochen habe, hat gesagt, daß die Haarlänge einem fünfmonatigen Wachstum entspricht.«
»Haare auf Drogen zu testen ist umstritten«, erklärte ich. »Es steht nicht fest, ob Kokainrückstände im Haar nicht auch von äußeren Einflüssen herkommen können. Wie zum Beispiel vom Rauch in Crackhäusern, der vom Haar wie Zigarettenrauch absorbiert wird. Es ist nicht immer einfach, zwischen von außen absorbierten und
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