Die tote Stadt: Frankenstein 5: Roman (German Edition)
erschienen.
Diese zauberhafte Erscheinung glitt anmutig aus dem Kokon, stieg aus der großen Badewanne und schien nicht erstaunt darüber zu sein, zwei Fremde im Haus vorzufinden. Auch schien ihr ihre Nacktheit nicht peinlich zu sein, und die Absichten der beiden Männer schienen ihr keine Sorgen zu bereiten; selbst die Pistole, die Frost mit beiden Händen hielt, schien sie nicht im Geringsten zu beunruhi gen. Sie strahlte ein so unermessliches Selbstvertrauen aus, als sei sie in dem Glauben aufgewachsen, die Welt sei ausschließlich für sie erschaffen worden, und als hätte sie in den darauffolgenden Jahren keinen einzigen Grund gehabt, diesen Glauben in Frage zu stellen.
Als diese erlesene Frau aus dem silbergrauen Sack auftauchte, der jetzt wie ein riesiger lederner Regenmantel schlaff von der Decke hing, fragte sich Frost, ob das Ding vielleicht doch kein Kokon war. Es mochte eine neue Erfindung sein, in dieser Epoche, in der revolutionäre Produkte jährlich zu Tausenden aus dem Wunderhorn der Spitzentechnologie strömten. Vielleicht handelte es sich um ein luxuriöses Schönheitsgerät, in das Frauen steigen konnten, um sich eincremen, enthaaren, in Form bringen, bräunen und der Gesundheit halber mit Sauerstoff beatmen zu lassen.
Wenn sie sich Frost zuwandte, war das Lächeln der Frau spektakulär, berauschend und ansteckend, doch wenn sie Dagget anlächelte, wurde Frost von einer siedenden Eifersucht erfüllt, die ihm nicht einleuchtete. Er konnte keinen Anspruch auf diese Frau geltend machen; er wusste nicht einmal, wer sie war.
»Wer sind Sie?«, fragte Dagget. »Was haben Sie in diesem Ding getan, und was ist das überhaupt für ein Ding?«
Sie warf einen flüchtigen Blick auf den eingefallenen Sack und runzelte die Stirn, als sähe sie ihn jetzt zum ersten Mal. Sie sah Dagget an und öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen. All ihre Zähne kullerten zwischen ihren Lippen heraus und fielen wie zweiunddreißig Würfel klappernd auf die Bodenfliesen.
Als sei sie verwundert, aber nicht alarmiert, beobachtete sie die verstreuten Zähne, bis sie aufgehört hatten, durch die Gegend zu springen. Sie blickte auf, erkundete mit der Zunge ihren zahnlosen Kiefer – und schon sprossen dort neue Zähne, leuchtend weiß und so perfekt wie der Rest von ihr.
Frost sah, dass Daggets Pistole aus dem Schulterhalfter unter seiner Jacke auf fast so magische Weise, wie sich die neuen Zähne gebildet hatten, in seine rechte Hand gewandert war. Dagget schob sich langsam am Waschtisch entlang, fort von der Frau und näher zu der Tür, in der Frost stand.
Die Zähne auf dem Boden standen in irgendeiner Beziehung zu dem abgetrennten Fuß im Wohnzimmer, zu dem Daumen und dem Zeigefinger in der Diele, die das Okay-Zeichen bildeten, zu dem Teil eines Kieferknochens mit Zähnen auf dem Fußboden im Schlafzimmer und zu der Zunge, aus der ein lidloses Auge wuchs. Aber Frost konnte all das nicht zusammensetzen. Niemand hätte das zu einem vollständigen Bild zusammensetzen können. Es war verrückt. Es hatte nicht das Geringste mit dem zu tun, was er erwartet hatte, und das, worauf sie gestoßen waren, waren keineswegs nur kriminelle Machenschaften oder ein terroristisches Komplott.
Die Frau war nicht einfach nur eine Frau. Sie war mehr als das, und ihre einmalige Schönheit war vielleicht noch das an ihr, was am wenigsten erstaunlich war. Aber was auch immer sie sonst noch sein mochte, sie war eine Frau, nackt und anscheinend wehrlos, und er konnte sie nicht bloß deshalb erschießen, weil ihr von einem Moment auf den anderen Zähne nachwuchsen, scheinbar nach Belieben. In seiner ganzen beruflichen Laufbahn hatte er noch nie auf eine Frau geschossen.
Als Dagget Frost erreichte, betrachtete die Frau sich in dem breiten Spiegel über den beiden Waschbecken. Sie legte ihren Kopf zur Seite, zog die Stirn in Falten und sagte nicht zu ihnen, sondern zu sich selbst: »Ich glaube, mein Baumeister hat diesen Baumeister falsch konstruiert.«
Auf dem Fußboden erwachten die zweiunddreißig Zähne schlagartig zum Leben, klapperten auf den Keramikfliesen und kehrten zu der Frau zurück, als erzeugte sie ein unwiderstehliches Anziehungsfeld. Wenn ein Zahn nur noch wenige Zentimeter von ihren nackten Füßen entfernt war, hörte er auf, ein Zahn zu sein, und wurde zu einer Ansammlung von winzigen silbernen Stäubchen, und jedes dieser kleinen Häufchen verschwand in ihrer Haut, als sei sie ein trockener Schwamm und sie seien
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