Die Tote von Buckingham Palace
etwas gegessen,
aber außer einem Schinkenbrot war nichts mehr übrig, und auf Schinken hatte er keinen Appetit. »Tyndale soll sie kommen lassen.«
Trotz aller Geduld brachten Pitt und Narraway so gut wie nichts aus den Frauen heraus. Keine wusste etwas, keine hatte etwas gehört oder gesehen. Manche weinten, alle beteuerten ihre Schuldlosigkeit, und bei mehr als einer war zu befürchten, dass sie ohnmächtig wurde oder einen hysterischen Anfall bekam.
»Aussichtslos!«, sagte Narraway verärgert, nachdem sie die letzte befragt hatten. »Wir haben nicht das Geringste erfahren!«
»Dann fangen wir eben noch einmal von vorn an«, sagte Pitt. Trotz seiner Erschöpfung dachte er nicht daran aufzugeben. »Jemand muss es getan haben. Vielleicht stoßen wir auf eine Unstimmigkeit oder einen Charakterfehler – das könnte uns weiterhelfen.« Damit wollte er nicht nur Narraway aufmuntern, sondern auch sich selbst. Bei dieser Art von Nachforschung war Ungeduld ein Fehler, bisweilen sogar der entscheidende. Er wandte sich erneut an Tyndale, dessen Hände regungslos auf dem Tisch lagen. »Wo schläft die Dienerschaft der Gäste?«
»Wie das Palastpersonal oben im Dienstbotentrakt«, gab dieser zur Antwort. Er wirkte mitgenommen. Seine Gesichtshaut war fleckig, und die Sommersprossen auf seinen Handrücken stachen von der bleichen Haut ab. »Alle Gäste bringen ihre eigenen Kammerdiener und Zofen mit, und dort ist reichlich Platz.«
»Vielleicht kann sich einer von diesen Leuten erinnern, etwas gesehen oder gehört zu haben. Nehmen sie ihre Mahlzeiten gemeinsam mit dem Palastpersonal ein?«
»Normalerweise nicht«, erklärte Tyndale. »Für sie gelten eigene Regeln. Wir können ihnen keine Anweisungen erteilen.« Er sagte das resigniert, als stehe ihm dabei eine lange Kette unliebsamer Vorfälle vor Augen.
»Bitte sorgen Sie dafür, dass sie einzeln herkommen.«
Sie begannen mit Mr Quases Kammerdiener, der nahezu Wort für Wort dasselbe sagte wie beim vorigen Mal. Als Zweiter kam der Dunkelds an die Reihe, ein Mann von gesunder Gesichtsfarbe,
der ebenso sonnengebräunt war wie sein Herr. Er nahm Haltung an, als er eintrat.
»Ob ich die Dienstbotentreppe runtergekommen bin, Sir?«, sagte er auf Pitts Frage. »Nein, Sir. Das wär frühestens nach zwei Uhr morgens gegang’n. Ich hatte die ganze Zeit zu tun, Sir, und zwar in der Küche am Gangende, genau ein Stockwerk drunter. Ich hab Mr Dunkeld da was Heißes zu trinken gemacht, Sir. Er hatte sich wohl ’n Magen ’n bisschen verdorben. Von dem Augenblick an, wo er nach oben gekommen is’, um sich hinzuleg’n, hatte ich keine ruhige Minute mehr.«
»Er hatte sich den Magen verdorben?«, fragte Narraway mit großen Augen.
Der Mann sah unbehaglich drein. »Ja, Sir. Wenn ich das sag’n darf, Hoheit verträgt deutlich mehr wie die meisten andern. Weil Mr Dunkeld ’n nich’ enttäuschen will, hält er mit und muss meistens dafür büßen. Da muss ich rechtzeitig vorbeugen. Ich hab da so meine Mittel, Se versteh’n? Die Tür von der Wäschekammer konnt ich nich’ seh’n, weil die von der Vorratskammer aus um ’e Ecke liegt. Die Treppe nach ob’n zu den Zimmern von uns Dienstboten hab ich aber seh’n könn’n. Da is’ keiner runtergekomm’n, jedenfalls nich’ vor halb drei. Das kann ich beschwör’n, und raufgegangen is’ nur Mr Edwards.«
»Vorhin haben Sie gesagt, es sei zwei Uhr gewesen«, hielt ihm Narraway in scharfem Ton vor.
»Stimmt, Sir. Ich hab noch ’ne halbe Stunde gewartet, für ’n Fall, dass mich Mr Dunkeld noch mal brauchte. Hab in der Zeit selber ’ne Tasse Tee getrunken. Hat ja kein’ Sinn, sich hinzulegen, wenn man gleich wieder aufsteh’n und nach unten geh’n muss.«
»Sind Sie Ihrer Sache sicher?«
»Ja, Sir.« Er stand nach wie vor stocksteif da. »Un’ falls Se glauben sollten, ich selber hätt die arme Kleine umgebracht, kann Ihn’n Mr Dunkeld bestätigen, dass ich die Wahrheit sag. Ich hätt gar keine Zeit dafür gehabt, nich’ mal, wenn ich das gewollt hätt.«
»Danke«, sagte Narraway nachdenklich. Auf seinem bleichen Gesicht lag Enttäuschung.
»Sie können gehen«, teilte ihm Pitt mit.
»Ja, Sir.« Er zog sich dankbar zurück.
Narraway sah Pitt an. »Es sieht ganz so aus, als müssten wir uns noch sehr viel gründlicher mit dem Gelage Seiner Königlichen Hoheit und seiner Gäste beschäftigen. Sofern Dunkelds Diener und Edwards die Wahrheit sagen, bleibt nur eine mögliche Schlussfolgerung: einer der Gäste
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