Die Tote von Buckingham Palace
Ebenso hatte sie wissen wollen, warum eine Anzahl Lakaien mitten in der Nacht mit Eimern voll Wasser gekommen und gegangen war, hatte sich nach Wein erkundigt, ganz allgemein danach, was getrunken worden und woher es gekommen war. Allerdings wies nichts daraufhin, dass sie etwas über die von Gracie entdeckten Portweinflaschen gewusst haben könnte.
Außerdem hatte sie nicht nur die genaue Uhrzeit festzustellen versucht, zu der die drei Frauen gekommen und gegangen waren, sondern auch, wann man die für Cahoon Dunkeld bestimmte große Kiste voller Bücher und Papiere gebracht hatte. In diesem Zusammenhang hatte sie sich erkundigt, wo sich die Bücher mittlerweile befanden.
Pitt wusste nicht, was er denken sollte. Drei Frauen waren in den Palast gekommen, zwei hatten ihn wieder verlassen, und die dritte war tot aufgefunden worden. Den Fuhrmann hatte niemand zu irgendeinem Zeitpunkt auch nur in der Nähe des Obergeschosses gesehen, vom Gästetrakt ganz zu schweigen. Welches all dieser Elemente, falls überhaupt eines, stand im Zusammenhang mit Sadies Tod?
Erneut ging er diese Frage in Gedanken durch. Das Einzige, wovon immer wieder die Rede war, ohne dass er irgendwelche Beweise für deren Existenz gehabt hatte, waren die Porzellanscherben, über die Tyndale keinesfalls mit Gracie hatte sprechen wollen. Etwas in diesem Zusammenhang schien ihn noch mehr zu beunruhigen als die Anwesenheit der Prostituierten im Gästetrakt des Palastes, und zwar auch noch, nachdem eine von ihnen ermordet worden war. Eigentlich sah Pitt nur zwei Möglichkeiten: entweder ging es um etwas so Kostbares, dass es Pitts Vorstellungskraft überstieg, oder die Tatsache, dass es zerbrochen war, bedeutete zusammen mit den anderen Hinweisen etwas so Katastrophales, dass man es um jeden Preis geheim halten musste.
Ungeachtet der damit verbundenen Schwierigkeiten, musste er auf jeden Fall versuchen, die Scherben zu finden, selbst wenn sich das nachträglich als unsinnig erweisen sollte. Ihm war klar, dass er dabei mit äußerster Umsicht vorgehen musste. Sicherlich wusste Tyndale, wohin man sie gebracht hatte, und wenn er erfuhr, dass Pitt danach suchte, bestand die Möglichkeit, dass er sie verschwinden ließ.
Dennoch gab es ohne Tyndale unter Umständen keine Möglichkeit, eine Handvoll Porzellanscherben in einer so ausgedehnten Anlage wie diesem Palast zu finden. Die Zeit war äußerst knapp. Schon am nächsten Tag konnte es nötig sein, Julius Sorokine von Amts wegen des Verbrechens zu bezichtigen. Damit wäre der Fall endgültig und unwiderruflich abgeschlossen. Da ein offizielles Anklageverfahren nicht vorgesehen war, würde es weder eine Würdigung von Indizien geben noch irgendeine Art der Verteidigung des Beschuldigten. Die einzige Stimme, die je für Sorokine sprechen würde, waren die Zweifel, die Pitt keine Ruhe ließen.
Da Narraway es nicht für richtig hielt, etwas weiterzuverfolgen, was den Kronprinzen womöglich in Schwierigkeiten bringen konnte, da eine solche Situation unbestreitbar ihm selbst und möglicherweise dem gesamten Staatsschutz schaden würde,
musste Pitt der Sache auf eigene Faust nachgehen, auch wenn nicht ausgeschlossen war, dass er den Preis dafür zahlen musste. Ihm war durchaus bewusst, dass Narraway gegebenenfalls letztlich kein anderer Ausweg bleiben würde, als ihn zu entlassen. Sofern es dazu käme, würde es außerordentlich schwer sein, eine Arbeit zu finden, für die er sich eignete und die er ebenso gern tat wie diese. Niemand außer ihm konnte den Unterhalt seiner Familie bestreiten – hatte er das Recht, sie dafür büßen zu lassen, dass ihm bei der Vorstellung nicht wohl war, sich jetzt schon festlegen zu müssen, obwohl seiner Ansicht nach noch berechtigte Zweifel an Sorokines Schuld bestanden?
Was aber würde aus ihm selbst, sofern er zuließ, dass man Julius Sorokine für den Mord an den beiden Frauen ins Irrenhaus schickte, für Leib und Seele eine wahre Hölle auf Erden? Würde ihn Charlotte dann noch lieben können? Oder würde sie sich allmählich von ihm abwenden, ihn schließlich verachten und um das trauern, was er einst gewesen war?
Es ging um einen hohen Preis. Noch während er darüber nachgrübelte, war ihm klar, dass er sich bereits entschieden hatte. Er bat Tyndale, feststellen zu lassen, wo sich Gracie aufhielt, und sie zu ihm zu schicken.
»Ja, Sir?«, sagte sie hoffnungsvoll, als sie eintrat. »Gibt’s was Neues?«
»Wir müssen die Porzellanscherben finden.«
»Se mein’
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