Die Tote von Buckingham Palace
klargemacht, dass sie wusste, dass sich der Hauptverdacht eigentlich gegen Sorokine richtete, hätte es sich aber denken müssen. Immerhin hatte er Tyndale gebeten, dem Personal einzuschärfen, dass Julius Sorokines Tür verschlossen bleiben müsse und ausschließlich Tyndale selbst ihm das Essen bringen dürfe, und auch das nur in Begleitung eines Lakaien. Natürlich hatte das sofort die Runde gemacht. Jetzt würden sich alle sicher fühlen, annehmen, dass der Fall gelöst und der Verrückte eingesperrt war. Vermutlich war auch Gracie zu dieser Schlussfolgerung gekommen. Jetzt sah sie ihn auf eine Weise an, die ihm zeigte, dass sie die Sache klarer durchschaut hatte als er.
»Wenn wir ihn für den Rest seiner Tage hinter Schloss und Riegel bringen wollen, darf es an seiner Schuld nicht den Hauch eines Zweifels geben«, gab er zur Antwort.
Sie nickte bedächtig. »Ja, wenn er’s nich’ is, muss es ’n andrer sein. Ich versuch’ rauszukriege, ob Mrs Sorokine was über die Flaschen gewusst hat. Vor allem aber will ich selber gerne wissen, wozu das Blut gut sein sollte und wie es da hingekomm’ is.«
»Gracie, sei vorsichtig!«
»Se müssen selber vorsichtig sein, Mr Pitt«, gab sie erregt zurück. »Falls Mr Sorokine es nich’ war, is’ es auf je’n Fall einer von den andern Gästen, und nich’ einer vom Personal. Also bin ich nich’ in Gefahr. Dumm is’ der Mörder sicher nich’, auch wenn er total verrückt is’. Das is’ aber nich’ das Einzige, was hier nich’ in Ordnung is’, Sir. Ich sag das nich’ gerne, aber Mr Tyndale weiß über was ganz Schreckliches Bescheid. Er will aber nich’, dass andre was davon mitkriegen.«
»Dann kümmere dich auch nicht darum«, sagte er. »Das ist mein Ernst, hast du verstanden?«
Sie saß stocksteif da. »Ja, Sir. Kann ich jetzt geh’n? Wenn keiner dahinterkomm’ darf, wer ich bin, sollte ich nich’ so lange hierblei’n.«
Während er ihr nachsah, hatte er das Gefühl, als entgleite seinen Händen die Lösung, der er sich schon so nahe gesehen hatte.
Mechanisch aß er eine weitere Scheibe Toast. War es möglich, dass sich Mrs Sorokine jemandem offenbart oder diesem Menschen Fragen gestellt hatte, die zeigten, in welche Richtung ihre Vermutung ging? Das mochte für die Lösung des Falles nicht von Bedeutung sein, doch war es für ihn selbst wichtig zu verstehen, was geschehen war. Er musste unbedingt nachvollziehen können, auf welche Weise die einzelnen Teile des Rätsels zusammenpassten. Eins wollte ihm nach wie vor nicht in den Kopf: zwar wies alles darauf hin, dass er den Beweis für ein von einem gemeingefährlichen Irren begangenes Verbrechen in Händen hielt, doch schien es zugleich unübersehbar eine ebenso
gründlich wie raffiniert geplante Tat zu sein. Und wenn es in Wahrheit zwei Täter gab?
Wem außer ihrem Vater hätte sich Minnie Sorokine anvertraut? Den größten Teil des Tages über dürfte sie kaum an die intensiv mit ihrem Projekt beschäftigten Männer herangekommen sein. Mit Elsa hatte sie wohl nicht gesprochen, waren doch die Beziehungen zwischen ihnen so gespannt, dass für beide ein vertrauter Umgang miteinander sicher nicht infrage kam. Schließlich wusste Minnie, was Elsa für Julius empfand, und Elsa wusste, dass Minnie ihrem Vater treu ergeben war.
Olga Marquand wiederum, die mit ihrem Schicksal haderte, hatte wohl Minnie gegenüber so tiefen Hass empfunden, dass man annehmen musste, sie hätte sie eigenhändig töten können, sofern ihr das von ihrem Wesen her möglich gewesen wäre. Mithin blieb noch Liliane Quase. Hatte sie jetzt weniger Angst als zuvor?
Er fand sie draußen im Park, wo sie allein an den gepflegten Blumenrabatten entlangging. Er beschleunigte den Schritt und sprach sie an, als er sie eingeholt hatte. Sie wirkte unruhig, und unter dem breitrandigen Hut, der ihre helle Haut vor der kräftig brennenden Sonne schützte, erkannte er ihren fahrigen Blick.
»Guten Morgen, Mrs Quase.«
Sie erstarrte mitten in der Bewegung und wandte sich ihm dann langsam zu. Sie hatte ihn wohl nicht kommen hören. In der warmen und von allerlei Gerüchen erfüllten Luft des Gartens war ihre Schönheit noch eindrucksvoller als in den hochherrschaftlichen Räumen des Palastes. Ihre Augen schimmerten goldbraun, und die unter dem Hut hervorlugenden Locken glänzten hell wie poliertes Kupfer.
»Guten Morgen, Inspektor«, sagte sie. »Wissen Sie nicht weiter?«
»In gewisser Hinsicht, wenn Sie so wollen. Ich hatte gehofft,
Weitere Kostenlose Bücher