Die Tote von Buckingham Palace
stünde.
Vielleicht ging es gar nicht um die Eisenbahn, sondern um etwas anderes. Hatte es mit Julius Sorokines Liebe zu Elsa zu tun? War Dunkeld die Sache so wichtig, dass er ihn bestrafen wollte? Aber wofür? Pitt konnte sich gut vorstellen, dass die Beziehung zwischen Sorokine und Mrs Dunkeld nur in ihrer Vorstellung existierte und nie Wirklichkeit geworden war. Er hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass Dunkeld seine Frau nicht liebte.
War es darum gegangen, Minnie aus dem Joch ihrer Ehe zu befreien, und war es Dunkeld gleichgültig gewesen, was dabei mit den beiden anderen geschah? Das ließ sich schon eher glauben.
Und wer hatte Minnie getötet? Das dürfte kaum zu Dunkelds ursprünglichem Plan gehört haben. Hatte sich Sorokine als weit gefährlicheres Werkzeug erwiesen, als Dunkeld vorhergesehen hatte? Das wäre in der Tat eine böse Ironie des Schicksals gewesen.
Aber warum das Schlafgemach der Königin? Es musste auf jeden Fall zum Plan gehört haben, denn dort hatte sich der Tafelaufsatz befunden. War von Anfang an beabsichtigt gewesen, die Leiche von dort in die Wäschekammer zu schaffen, oder ging das auf Improvisation zurück? Falls ja – was war der Grund dafür? Pitts Gedanken überschlugen sich. Sofern Sadie im Schlafgemach der Königin getötet worden war, konnte sie in der Wäschekammer nicht mehr besonders stark geblutet haben. Also hatte der Täter das Blut aus den Portweinflaschen ausgießen müssen, um den Anschein zu erwecken, als sei die Frau an Ort und Stelle aufgeschlitzt worden. In dem Fall wäre die Tat also doch geplant gewesen. Aber wo war das Motiv?
Und wieso war die Leiche nackt gewesen? Minnie hatte man vollständig bekleidet aufgefunden. Lag die Lösung darin, dass Sadie in einem Anfall von Irrsinn getötet worden war, Minnie hingegen deshalb, weil sie mit ihrer unbezwingbaren Neugier der Lösung zu nahe gekommen war?
Auch das wäre wieder eine aberwitzige, tragische Ironie. Dunkeld hatte einen entsetzlichen Mord provoziert, um damit seinen Schwiegersohn zu vernichten und seine Tochter aus ihrer Ehe zu befreien. Doch dann war sie Sorokine dank ihrer Intelligenz so gefährlich geworden, dass er Sorokines Irresein bei klarem Verstand nachgeahmt und sie getötet hatte, um sich vor den Folgen seines eigenen Tuns zu schützen. Kein Wunder, dass Dunkeld jetzt wie ein Mann wirkte, dem weit mehr zu schaffen machte als nur Kummer.
Doch wie ließ sich das beweisen? Und inwieweit war es von Bedeutung? Falls Sorokine ein Mörder war, musste man ihn auf irgendeine Weise festsetzen, um die Gesellschaft vor ihm zu schützen. Das war nur recht und billig. Was aber war mit Dunkeld, der in tückischer Weise eine Prostituierte in der Absicht herbeigeschafft hatte, Sorokine so zu reizen, dass er sie tötete? Dieser Plan war in gewisser Weise fehlgeschlagen und hatte seine einzige Tochter das Leben gekostet, um derentwillen er die ganze Tragödie inszeniert hatte. Bedeutete das ständige Bewusstsein, an ihrem Tode schuldig zu sein, nicht eine schlimmere Strafe für Dunkeld als jede, die das Gesetz vorsah?
Und was würde mit seiner Frau geschehen? Sie würde entweder an ihrer Selbsttäuschung festhalten, Sorokine habe nichts mit diesen Taten zu tun, oder schließlich begreifen, dass er schuldig war: ein gespaltener Mensch, einerseits der kultivierte und sympathische Mann, den sie lieben konnte, andererseits schwer geisteskrank und ohne jede Spur von dem Mitgefühl, das den kultivierten Menschen ausmacht.
Pitt konnte sich nicht vorstellen, dass sich Dunkeld ihr gegenüber in irgendeiner Weise großmütig verhalten würde. Ihre Strafe dafür, dass sie sich in Minnies Mann verliebt hatte, der seine
Frau nicht liebte, würde in fortwährender öffentlich wie privat ausgeübter Grausamkeit bestehen.
All das würde Pitt beweisen müssen. Das verlangte die Gerechtigkeit, ob das nun dem Kronprinzen angenehm war oder nicht.
Pitt musste doch wieder eingeschlafen sein, denn ein Klopfen an der Tür riss ihn in die Wirklichkeit zurück. Er setzte sich langsam auf und versuchte zu überlegen, wieso er vollständig angezogen auf dem Bett lag. Er fühlte sich beengt, konnte kaum atmen. Bevor er den Mund auftun konnte, öffnete sich die Tür und Gracie kam mit einem Tablett herein. Dampf stieg aus der Tülle einer kleinen Teekanne.
»War’n Se etwa die ganze Nacht auf?«, erkundigte sie sich bei seinem Anblick besorgt.
»Nein«, beruhigte er sie, schwang die Beine über die Bettkante und stellte
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