Die Tote von Buckingham Palace
Was er dachte, war ihr bekannt, aber noch nie war es ihr gelungen, einen Blick in sein Herz zu werfen.
Hamilton Quase konnte bezaubernd sein, doch hatte Liliane offensichtlich Angst um ihn. Bei jeder Gelegenheit verteidigte sie ihn, als sei er äußerst verletzlich. Elsa kamen Erinnerungen an
Blicke, die Liliane und Julius getauscht hatten, ein plötzliches Erbleichen Hamiltons, ein Lächeln Cahoons; dann waren die Lippen schmal geworden, und man hatte hastig das Thema gewechselt.
»Ich würde Sie wirklich gern unterstützen, wenn ich eine Möglichkeit dazu sähe, Mr Pitt«, sagte sie, darum bemüht, ihre Stimme entschlossen klingen zu lassen. »Wir alle empfinden diesen Vorfall als entsetzlich, am schlimmsten aber war er natürlich für die arme Frau. Ich habe mich gestern Abend kurz nach neun in mein Zimmer zurückgezogen. Auskünfte über alles, was danach geschehen ist, können Sie von meinem Mann und den anderen Herren bekommen.«
»Ich habe sie bereits befragt, Mrs Dunkeld«, teilte er ihr mit. »Jeder von ihnen sagt, dass er sich nach der … Abendgesellschaft allein zurückgezogen hat. Lediglich Mr Sorokine hat mir erklärt, er sei früher als die anderen gegangen, was die Dienstboten bestätigen. Trotzdem gibt uns das bedauerlicherweise kaum eine Möglichkeit, ihn auszuschließen, da er sein Zimmer nicht mit Mrs Sorokine teilt und sie erst heute Morgen wieder gesehen hat.«
Sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. »Aha. Sie wissen also nichts, außer dass es jemand von uns gewesen sein muss?«
»Ja. Ich fürchte, genau das ist es.«
Darauf fiel ihr keine Antwort ein, nicht einmal eine Frage oder ein Aufbegehren. Die Stille lag über dem Raum wie ein Leichentuch.
KAPITEL 3
A n dem Tag ,an dem man die Tote im Palast entdeckte, war Gracie Phipps seit nahezu acht Jahren als Mädchen für alles in Pitts Haushalt tätig. Mittlerweile war sie einundzwanzig Jahre alt und mit dem Polizeiwachtmeister Samuel Tellman verlobt. Es erfüllte sie mit großem Stolz, für so einen bemerkenswerten Mann wie Pitt arbeiten zu dürfen, und sie hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass es in ganz England keinen besseren Kriminalbeamten gab als ihn.
Als das Ehepaar Pitt sie ins Haus genommen hatte, war sie nicht einmal einen Meter fünfzig groß gewesen, hatte weder lesen noch schreiben können noch auch nur die Möglichkeit erwogen, es zu lernen. Da sich Charlotte Pitt erbötig gemacht hatte, sie in beiden Fertigkeiten zu unterrichten, las Gracie inzwischen nicht nur die Tageszeitung, sondern sogar Bücher, und zwar ausgesprochen gern. Außerdem war sie fast vier Zentimeter gewachsen und maß damit etwas mehr als einen Meter fünfzig.
Während sie in ihrer Dachkammer las, durch deren offen stehendes Fenster Blätterrauschen und der ferne Lärm des Verkehrs drang, klopfte es an die Tür. Sie fuhr hoch. Draußen war es dunkel, es musste also schon spät sein. Über dem Lesen hatte sie die Zeit völlig vergessen.
Sie sprang auf und öffnete.
Charlotte stand vor der Tür, nach wie vor vollständig angekleidet, aber mit unordentlicher Frisur, als habe sie ihre Haare in großer Eile wieder aufgesteckt.
»Ja, Ma’am?«, sagte Gracie leicht beunruhigt. »Stimmt was nich’?« Sogleich musste sie daran denken, dass Pitt am frühen Morgen zu einem dringenden Fall geholt worden war und sie seither nichts von ihm gehört hatten. »Fehlt Mr Pitt was?«
»Ich glaube nicht«, sagte Charlotte mit sonderbar wehmütigem Lächeln. »Mr Narraway vom Staatsschutz möchte mit dir sprechen. Ich glaube, er will dich etwas fragen.« Ihr Ausdruck wurde sanfter. »Sprich frei heraus und nimm bei deiner Entscheidung auf nichts und niemanden Rücksicht. Ich bin mit allem einverstanden, was du sagst.«
»Was? … Was will er denn von mir?«, fragte Gracie, von plötzlicher Panik erfasst. Sie kannte Pitts Vorgesetzten Narraway als zurückhaltenden und stets elegant gekleideten Herrn, der auf sie aber stets einen finsteren Eindruck gemacht hatte. Im Londoner East End, wo sie aufgewachsen war, hatte sie harte Burschen gesehen, die ein Messer in der Tasche trugen und damit umgehen konnten, doch hätte sie bei einem Kampf zwischen Mr Narraway und einem dieser Kerle auf keinen von ihnen gewettet. Nur ein Dummkopf würde diesen Mann herausfordern, das war ihr instinktiv klar. Lediglich wenn er Mrs Pitt ansah, wirkte er genauso menschlich und verletzlich wie andere. Gracie nahm an, dass niemand außer ihr das sah. Schon sonderbar, was
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