Die Tote von Buckingham Palace
Befragung aller Dienstboten«, fuhr Pitt fort, »sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass keiner von ihnen als Täter infrage kommt.«
Zuerst begriff sie nicht, was sich hinter der Aussage verbarg. »Soll das heißen, jemand ist hier in den Palast eingedrungen?«, fragte sie ungläubig. »Aber wie wäre das möglich? Oder war es einer der Wächter? Das zu glauben würde mir schwerfallen. Sind Sie Ihrer Sache sicher?«
»Niemand ist hier eingedrungen, Mrs Dunkeld. Aus den Aussagen der Wächter ergibt sich, dass auch von ihnen keiner als Täter infrage kommt. Diese Art von Verbrechen wird gewöhnlich von einer Einzelperson begangen.«
»Sie meinen, es war …« Sie brachte die Worte nicht heraus, die nötig gewesen wären, um zu sagen, was sie meinte. Warum
hatte sie angenommen, ein Wutausbruch sei die Ursache für die Tat gewesen?
»Die Ärmste«, sagte sie, während sie sich vorzustellen versuchte, wie es gewesen sein musste. Unwillkürlich fielen ihr Augenblicke intimen Beisammenseins mit Cahoon ein, in denen sie sich ihrer eigenen Hilflosigkeit bewusst gewesen war und sie Angst vor ihm gehabt, sich sogar körperlich verletzt gefühlt hatte. Er hatte ihren Schmerz genossen, dessen war sie jetzt sicher. Es hatte ihn erregt.
»Bitte verzeihen Sie, dass ich Ihnen das nicht ersparen kann.« Waren ihre Empfindungen so deutlich auf ihrem Gesicht abzulesen gewesen, dass der Polizeibeamte es für nötig hielt, sich zu entschuldigen? Sie spürte, wie ihr heiß wurde, und hoffte inständig, dass er das für ein Anzeichen von Tugendhaftigkeit hielt. Allmählich brachte er sie aus dem Konzept. Gewiss würde Cahoon das verachtenswert finden.
»Ich bin durchaus imstande, den Tatsachen ins Auge zu sehen, Mr Pitt«, sagte sie mit unnötiger Schärfe. »Selbst wenn sie unangenehm sind. Ich habe nicht mein ganzes Leben im Salon zugebracht.«
Sein Gesicht ließ nicht erkennen, ob er verstand, was sie damit sagen wollte. »Da niemand in den Palast eingedrungen ist, bleibt nur die Möglichkeit, dass einer der Gäste der Täter war.«
Diese Eröffnung überstieg jegliche Vorstellungskraft. »Sie meinen, einer von uns?«, fragte sie mit schriller Stimme. Sie war nicht bereit, sich diese Möglichkeit einzugestehen. »Das ist doch widersinnig!« Noch während sie das sagte, ging ihr auf, dass die Vorstellung so abwegig nicht war. Bei jedem Menschen verbargen sich wilde Leidenschaften unter der Oberfläche des Alltagsgesichts, die erst zum Vorschein kamen, wenn sie durch Angst oder Begierde unbeherrschbar wurden. Dabei kam es zu einem Wutausbruch, bei dem kränkende Worte fielen oder ein wertvoller Gegenstand zertrümmert wurde. Ausschließlich die gesellschaftlichen Konventionen und die Angst vor Strafe hinderten die meisten daran, ihre Mitmenschen gewalttätig zu behandeln. Das
Leben aller Menschen hatte als unantastbar zu gelten, weil sonst auch das eigene in Gefahr wäre. Doch gehörten Frauen, die ihren Körper verkaufen, zu derselben Kategorie wie andere Menschen? Falls ja, wieso konnte man sie dann kaufen?
Er ließ sie nicht aus den Augen.
»Ich weiß nichts, was Ihnen weiterhelfen könnte, Mr Pitt«, sagte sie so gefasst sie konnte. »Sicher ist Ihnen bereits bekannt, dass wir uns früh zurückgezogen haben, während die Herren weiterfeierten. Der erste Mensch, den ich danach gesehen habe, war meine Zofe, als sie mich weckte und mir mitteilte, es sei eine Tragödie vorgefallen und alle Gäste seien angewiesen, in ihren Zimmern zu bleiben.«
»Wissen Sie, um wie viel Uhr Ihr Mann zu Bett gegangen ist?«, fragte er.
Ihm musste klar sein, dass sie in getrennten Zimmern schliefen. Das war in der Oberschicht gang und gäbe, vermutlich aber nicht in der Schicht, der er angehörte.
»Nein. Aber vielleicht können Ihnen die Herren diese Frage beantworten.« Wenn man den Kronprinzen außer Acht ließ – und es war völlig undenkbar, dass er die Tat begangen haben könnte –, waren das vier: Dunkeld, Sorokine, Quase und Marquand. Die Schlussfolgerung, die dieser Polizist ausgesprochen hatte, schien zwar unausweichlich zu sein, doch war der Gedanke zugleich lachhaft. Wenn er diese Männer gekannt hätte, wäre ihm das nie in den Sinn gekommen.
Doch wie gut kannte sie selbst die vier? Sie war seit über sieben Jahren mit Cahoon Dunkeld verheiratet, lebte seither in seinem Haus. Bisweilen waren sie vertraut miteinander, aber zugleich auch wie Fremde, die einander nicht einmal dann verstanden, wenn sie dieselben Worte verwendeten.
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