Die Tote von Buckingham Palace
Menschen mochte es so ergehen?
Jemand sprach sie an, und sie kam zu sich. Es war Cahoon, der sich ärgerte, weil sie ihm nicht zuhörte. Darin lag seiner Ansicht nach ein Mangel an Achtung. Litt außer seiner Selbstgefälligkeit noch etwas darunter? Er wollte, dass sie ihn liebte, das wusste sie. Doch warum? Weil er damit Macht über sie hätte, sein Selbstwertgefühl steigern konnte? Oder sehnte auch er sich nach Zärtlichkeit, nach jemandem, mit dem er Freud und Leid teilen konnte, Begeisterung schönen Dingen gegenüber, Ehrfurcht vor dem Unbekannten, die Verwirrung bei überwältigenden Empfindungen?
»Elsa!« Seine Stimme klang scharf.
Sie musste gut achtgeben. »Ja, Cahoon?«
»Was hast du?«, erkundigte er sich, scheinbar besorgt. »Fehlt dir etwas?«
»Nein.« Sie musste sich rasch eine Ausrede einfallen lassen. »Ich habe nur überlegt, ob der Polizeimensch mit der Aufklärung weiterkommt.«
»Es sind zwei. Es ist übrigens nicht, wie ich gesagt habe, die Polizei, sondern der Staatsschutz«, erläuterte er. »Wie man hört, gehen die mit größerer Diskretion vor als normale Polizeibeamte. Ich hatte dich gefragt, ob du gern mit nach Kairo kommen würdest, wenn es da bestimmte Dinge zu klären gibt.«
Sogleich überlegte sie, ob Julius ebenfalls mitreisen würde. Ging es um diplomatische oder um technische Fragen? Sie konnte Cahoon nicht gut fragen. Und wollte sie wirklich in Julius’ Nähe sein, ihre Einsamkeit und Unsicherheit noch stärker empfinden? Falls sie sicher wüsste, dass er sie liebte, würde das ihr Herz mit überwältigender Freude erfüllen. Doch das zu erreichen lag nicht in ihren Kräften. Es könnte nie und nimmer gelingen.
Er war mit ihrer Stieftochter verheiratet. Die einzige Möglichkeit wäre ein doppelter Treubruch, und darauf ließ sich kein Glück gründen.
Oder sie würde merken, dass er sie nicht liebte, sondern lediglich flüchtig begehrte, wie das bei Quase in Bezug auf Minnie der Fall gewesen zu sein schien – und allem Anschein noch war –, mit einer Gier, in der zugleich Groll und Bitterkeit lag, weil sie eine Art von Knechtschaft bedeutete. So etwas würde nur die innere Leere verstärken. Wollte sie wissen, ob er ihrer wirklich wert oder oberflächlicher war, als sie annahm? Oder schlimmer noch, ob es sich bei ihr so verhalten würde?
»Nimm dich zusammen, Elsa«, fuhr Cahoon sie an. »Möchtest du mitkommen oder nicht?«
»Selbstverständlich«, sagte sie, weil ihr keine glaubwürdige Ausrede einfiel. Vielleicht aber lag es auch daran, dass sie sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen wollte, in Julius’ Nähe zu sein, ganz gleich, um welchen Preis. Obwohl alle Vernunftgründe dagegen sprachen, hatte sie sich ohne zu zögern dafür entschieden.
Früher war es ihr immer so vorgekommen, als liege eine Welt zwischen ihr und Minnie. Sie hatte angenommen, sie unterscheide sich von ihrer Stieftochter so sehr, dass es zwischen ihnen keine Möglichkeit des Verstehens geben könne. Es war gut möglich, dass sie sich irrte und in Wahrheit genau wie Minnie war, nur dass sie alles mit weniger Eleganz tat.
Der Nachmittag verlief entsetzlich. Die Männer hatten ihre Gespräche wieder aufgenommen, und um drei Uhr war der Kronprinz zu ihnen gestoßen. Er wirkte sehr förmlich und ernst. Elsa sprach nur kurz mit ihm, sah aber, dass er noch unter den Nachwirkungen der nächtlichen Ausschweifungen und dem grauenvollen Schock litt, der darauf gefolgt war. Zwar hatte er sie mit seiner gewöhnlichen Höflichkeit begrüßt, sich aber damit begnügt, sie nach ihrem Ergehen zu fragen und ihr einen angenehmen Nachmittag zu wünschen. Sie konnte nicht umhin zu sehen, welche Erleichterung sich auf seine Züge legte, als er
Cahoons ansichtig wurde, der, während er auf den Prinzen zutrat, ohne Worte, allein mit seinem breiten Lächeln und seiner Selbstsicherheit zu verstehen gab, dass er Herr der Lage sei und es nichts zu befürchten gebe.
Natürlich gab es nichts zu befürchten, sagte sie sich. Die Tragik betraf ausschließlich die unglückliche Tote. Gewiss, der Fall war äußerst unangenehm, doch gab es darüber hinaus nichts zu sagen.
Sie verbrachte den Nachmittag damit, dass sie eine Weile allein im Park spazieren ging und dann eine Stunde lang mit Olga Marquand Karten spielte. Dieser schien es ebenso schwerzufallen wie ihr selbst, sich zu konzentrieren. Die Plauderei mit Liliane beim Nachmittagstee drehte sich vorwiegend um Klatsch. Dabei interessierte das keine von beiden
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