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Die Tote von Buckingham Palace

Die Tote von Buckingham Palace

Titel: Die Tote von Buckingham Palace Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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bekamen im Laufe der Zeit so manches mit, gewannen Einblick in Charakterfehler und menschliche Schwächen, erkannten, wovor ihre Herrschaften
Angst hatten, welchen Dingen, Personen und Situationen sie auswichen, weil sie sich ihnen nicht stellen mochten. Sie wussten, worüber sie lachten, wen sie gut leiden konnten und wen nicht. Bei den Damen war das besonders einfach, denn man erfuhr eine Menge über sie, wenn man sah, was sie trugen, wusste, wie lange sie brauchten, um sich anzukleiden, und wie oft sie ihre Meinung änderten.
    Aber würde ihr etwas von dem hier nützen?
    Es war Dienstboten möglich, ihre Herrschaft und andere Menschen in ihrer nächsten Umgebung in unbewachten Augenblicken zu beobachten, da diese der Ansicht zu sein schienen, sie seien allein, wenn außer ihnen lediglich ein Dienstbote anwesend war. Doch wie lange würde sie kommen und gehen, Dinge holen, aufräumen und in Ordnung bringen müssen, bis sie etwas Wichtiges sah oder hörte?
    Die Vorstellung, so unbedeutend zu sein wie ein Einrichtungsgegenstand, war ihr in tiefster Seele zuwider. Die Herrschaften schienen sich nicht das Allergeringste aus dem zu machen, was ein Dienstbote über sie dachte. Was wohl Tellman zu einer so demütigenden Art des Umgangs mit Menschen sagen würde? Pitts Frau Charlotte hatte sie nie so behandelt.
    Und jetzt erwies sich einer dieser wohlhabenden und einflussreichen Herren als gemeingefährlicher Irrer, der Frauen aufschlitzte und in Wäschekammern verbluten ließ. Sie erschauerte, und unwillkürlich beschlich sie bei dieser Vorstellung ein heftiges Unbehagen. Deutlich trat ihr die Erinnerung daran vor das innere Auge, wie sie damals am Mitre Square in Whitechapel eine fürchterlich zugerichtete Leiche gefunden hatte. Noch nie im Leben hatte sie so viel Angst gehabt. Der Unterleib der Toten war aufgeschlitzt gewesen, wie alle Opfer des berüchtigten Massenmörders, den man deshalb ›Jack den Bauchaufschlitzer‹ nannte. Warum nur tat jemand so etwas?
    »Steh’n Se nich’ so faul rum!«, herrschte Ada sie an. »Wir müssen fertig sein, wenn die hier reinwollen, und wir ha’m noch ’ne Menge zu tun. Bring’n Se die Staubwedel un’ die Gläser weg. Passen
Se auf, dass keine Ränder auf ’n Tischen zu seh’n sind, sons’ gibt’s Ärger mit der Newsome.«
    »Hier is’ ’n Kratzer drauf.« Gracie wies auf einen eleganten Sheraton-Tisch.
    »Weiß ich. Das is’ an dem Abend passiert, wo se die Schlampen hier hatten.« In Adas Stimme lag unüberhörbar Missbilligung. »Keine Ahnung, warum se die Weiber nich’ einfach gleich mit auf ihr Zimmer nehmen. Großartig singen oder so könn’ die ja wohl nich’.«
    »Arbeiten Se gerne hier?«, fragte Gracie.
    Ada hob überrascht den Blick. »Na klar doch. Immerhin lernt man hier erstklassige Leute kenn’. Man weiß nie, was noch draus werden kann, wenn man Glück hat un’ die Augen offen hält.«
    »Wo könnte man denn noch ’ne bessere Arbeitsstelle kriegen wie hier?«, fragte Gracie verblüfft.
    »Wer redet von Arbeit, dummes Stück?«, sagte Ada aufgebracht. »Woll’n Se sich etwa Ihr Le’m lang für andre quälen? Ich will ’n Mann mit ’ner geregelten Arbeit und ’nem eignen Haus. Dann kann mir keiner mehr sagen, um wie viel Uhr ich aufsteh’n und wann ich zu Bett geh’n muss.«
    Fast hätte Gracie gesagt: »Ich heirat ’n Polizisten! ’n richtigen Wachtmeister«, doch ihr fiel noch gerade rechtzeitig ein, dass das ein großer Fehler wäre. Wirklich schade. Sicher hätte sie der hochnäsigen Ada damit das Maul stopfen können.
    »Was is’?«, fragte Ada, als sie sah, wie sie mit dem Staubtuch in der Hand reglos dastand.
    »Ach so«, sagte Gracie rasch. »Ich versteh. Einer von der Garde, das wär was.«
    Ada lachte sie aus. »Das sind feine Herr’n, Dummchen! Se schein’ ja wirklich kein’ Schimmer zu ha’m. Wo komm’ Se denn bloß her? Eine wie Sie sollte sich lieber nach ’nem Laufburschen oder so umseh’n. Wenn Se hier fertig sind, könn’ Se die Treppe machen. Danach hol’n Se die Bettwäsche von unten. Wir müssen alle Betten frisch beziehen, wenn wir die Zimmer machen. Un’ trödeln Se nich. Wir ha’m nich’ viel Zeit.«

    »Is’ ja schon gut.« Erstaunt merkte Gracie, wie sehr es sie ärgerte, herumkommandiert zu werden. Sie hatte das nicht für so schwierig gehalten. Vielleicht hatte Tellman gar nicht so unrecht. Aber mitunter hatte Freiheit einen sehr hohen Preis, und schließlich war sie gekommen, um Pitt zu helfen und

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