Die Tote von Buckingham Palace
dass die Fragen stell’n.«
»Keine Sorge, von uns war’s keiner«, sagte der Lakai mit breitem Lächeln. »Einer von den Dienern bei ’n Herrschaften war die halbe Nacht auf und hat geschwor’n, dass niemand aus’m Palast die Treppe runtergekommen is’.«
»Hüten Sie Ihre Zunge, Edwards«, sagte Mr Tyndale mahnend. »So zu reden ist ungehörig.«
»Verzeihung, Mr Tyndale«, sagte der Lakai rasch, sah dabei aber unter gesenkten Lidern zu Gracie hin.
»Natürlich wars keiner von unsern Leuten«, sagte Mrs Newsome nun. »Auf diesen Gedanken ist auch nie jemand gekommen.«
»Da bin ich aber nich’ so sicher«, sagte Ada leise.
»Wie bitte?« Mrs Newsome legte ihr Messer hin und sah Ada kalt an.
»Da bin ich ganz sicher, Ma’am«, gab Ada mit offenbar lange geübter Harmlosigkeit zurück.
Irgendjemand kicherte.
»Muss ich Sie bitten, den Raum zu verlassen?«, fragte Mrs Newsome eisig.
»Nein, Ma’am«, flüsterte Ada.
Danach sprach niemand mehr, bis das Frühstück für beendet erklärt wurde und jeder an seine Arbeit ging. Es war Gracie bewusst, dass sowohl Mr Tyndale als auch Mrs Newsome sie aufmerksam beobachteten, wenn auch sicher aus unterschiedlichen Gründen.
Ada bekam den Auftrag, sie einzuweisen. Entweder hatte sie Glück gehabt, oder Mr Tyndale hatte dafür gesorgt, dass sie nicht in der Küche oder der Waschküche zu arbeiten brauchte, sondern für den Reinigungsdienst in den Räumen der Gäste eingesetzt wurde. Nachdem sich die beiden jungen Frauen mit dem Nötigen ausgerüstet hatten, gingen sie nach oben.
»Wir müssen im Salon und in ’n Schlafzimmern saubermachen«, teilte ihr Ada mit. »Natürlich nur, wenn da keiner drin is’, auch nich’ ihre Zofen und Kammerdiener.«
»Ha’m die alle ihre eignen Diener mit?«, fragte Gracie.
Ada bedachte sie mit einem vernichtenden Blick. »Na klar doch. Komm’ Se vom Mond?«
Gracie wünschte, sie hätte den Mund gehalten, und wechselte rasch das Thema. Sie befanden sich inzwischen im langen Korridor des Gästetrakts, wo sie sich tief beeindruckt umsah. Sie war nicht sicher, was sie erwartet hatte. Die über und über mit vergoldetem Stuck verzierte Decke des Korridors war höher als jeder Raum, den sie je zuvor gesehen hatte. Davon abgesehen entdeckte sie nichts Außergewöhnliches – weder Kronen im Stuck noch Lakaien in dunkler Livree und weißen Handschuhen, die auf Weisungen warteten. Genau genommen sah man niemanden. Alles lag vollständig ruhig da. Eine der Türen, an denen sie vorüberkamen, war schmaler als die anderen.
»Is’ das da die Wäschekammer?«, fragte Gracie im Flüsterton.
Ada erschauerte demonstrativ. »Ja. Gott sei Dank könn’ wir da nich’ rein. Ich würd schon in Ohnmacht fall’n, wenn ich bloß dran denk. Dafür müssen wir jetz’ jeden Tag die frische Wäsche
aus der Waschküche nach oben bringen, was natürlich mehr Arbeit is’.« Sie sah Gracie abschätzend an. »Bestimmt ha’m Se die Arbeit hier noch nie gemacht. Wir fangen mi’m Salon an, bevor die aufstehen un’ da rein wollen.«
Sie ging weiter. »Los, komm’ Se schon! Gestern hatten wir den ganzen Tag keine Gelegenheit, da zu arbeiten, weil der Polizist uns ausgequetscht hat und am Abend die Herr’n da drin war’n. Das is’ ’n ziemlich ungepflegter Patron. Wenn man dem sein’ Hemdkragen sieht, muss man annehmen, dass seine Frau zwei linke Hände hat. Immerhin war er sauber, das is’ ja auch schon was.«
Diese negative Äußerung über Pitt kränkte Gracie zutiefst, doch durfte sie sich nichts anmerken lassen. Sie hatte seine Hemden selbst gebügelt und wusste, dass sie einwandfrei gewesen waren.
Inzwischen hatten sie den Salon erreicht. Ada sah sich prüfend um und zog die Nase kraus. »Riecht grauenhaft hier drin. Das sin’ die Zigarren von dem Dunkeld. Ich weiß nich’, wie seine Frau das aushält. Er muss wie Dreck schmecken.«
»Sicher bleibt ihr nix andres übrig«, gab Gracie zur Antwort. Pitt rauchte nicht, und es fiel ihr schwer, die verrauchte Luft in diesem wunderschönen Zimmer zu atmen, dessen im Laufe der Jahre immer wieder gewachster Parkettboden herrlich schimmerte. Zahlreiche große Porträts und Stillleben hingen in vergoldeten Rahmen an den Wänden. Ein prächtiger Kamin mit einer reich verzierten Marmorumrandung lenkte Gracies Aufmerksamkeit ebenso auf sich wie eine Anzahl übergroßer Sofas und schwerer Lehnsessel. Hier und da im Raum verteilt standen kleine Tische, deren hölzerne Oberfläche wie Seide
Weitere Kostenlose Bücher