Die Tote von Buckingham Palace
frieren und in einer heruntergekommenen Kammer leben würde, als nach der Pfeife anderer zu tanzen, wie er sich ausdrückte – nur, damit er selbst Herr seiner Entschlüsse sein durfte. Ihrer Ansicht nach war es weit besser, ein geheiztes Zimmer, jeden Tag gut zu essen zu haben und in gesicherten Verhältnisse zu leben – da konnte man auch gern anderen dienen.
Jeder Mensch, ganz gleich, wer, musste sich nach Regeln richten. Tellman aber war halsstarrig, und so konnte man ihm offensichtlich nicht klarmachen, dass es auch dabei um nichts weiter als Regeln ging. Andererseits war es ihr ganz recht, dass er genau so war, wie er war – nur ein bisschen vernünftiger hätte er gern sein dürfen. Während sie an ihn dachte, lächelte sie im Dunkeln vor sich hin. Schon bald würde sie ihm alles erzählen können, was sie hier erlebte. Sie nahm sich vor, Notizen zu machen, um nichts zu vergessen – über das Leben im Palast, nicht über ihre Arbeit für Pitt. Die musste sie vor jedem Dritten geheim halten, auch vor Tellman.
Sie war wohl schließlich doch eingeschlafen, denn ein Klopfen an ihrer Tür weckte sie. Schon im nächsten Augenblick stand Norah mit einer Kerze in der Hand vor ihrem Bett. Sie wartete, bis Gracie aufgestanden war und im Nachthemd barfuß auf dem Boden stand.
»Se könn’ nich’ gut gleich am erst’n Tag zu spät anfang’n«, sagte sie munter und wandte sich befriedigt um. »Frühstück
um halb sie’m in der Leutestube. Verpassen Se’s bloß nich, sons’ müssen Se bis Mittag Kohldampf schieben. Zwischendurch gibt’s nix.«
Gracie dankte ihr, und während sie das Wasser, das sie am Vorabend geholt hatte, aus der Kanne in die Waschschüssel goss, stellte sie sich körperlich und seelisch auf das ein, was sie erwartete.
Das Kleid war ein wenig zu weit, vor allem um die Taille, aber nachdem sie die Schürze umgebunden hatte, sah alles genau richtig aus. Die Schürze war tadellos gebügelt, ohne die geringste Falte, und die Spitze war so gut wie bei den feinen Damen. Das Häubchen drückte etwas, doch als sie sich in dem kleinen Spiegel ansah, der auf der Kommode stand, stellte sie überrascht fest, wie gut ihr gefiel, was sie sah. Trotz ihrer Befangenheit fühlte sie sich recht wohl.
Die Leutestube war äußerst nüchtern eingerichtet und nicht im Entferntesten so großartig, wie sie sich das vorgestellt hatte. Da sie außer in Pitts Haus noch nie Dienst getan hatte, gründeten sich ihre Erfahrungen mit hochherrschaftlichen Haushalten ausschließlich auf den von Charlottes Schwester, in dem sie sich vor einigen Jahren eine Weile aufgehalten hatte. Hier im Palast schien es ähnlich zuzugehen, und das beruhigte sie ein wenig. Auch hier hingen Büschel getrockneter Kräuter von den langen Deckenbalken herab, und an einer der Wände sah man auf Hochglanz polierte Kupferkasserollen und andere Gerätschaften.
Insgesamt saßen etwa ein Dutzend Personen um den Tisch herum. Eine von ihnen war Ada, die blendend aussah. Das schwarze Kleid brachte ihre Figur unter anderem deshalb bestens zur Geltung, weil sie die mit Spitze besetzte Schürze so eng um die Taille geschnürt hatte, wie das nur möglich war. Schweigend stellte sich Gracie an den Platz, den man ihr anwies. Mr Tyndale stand am Kopf des Tisches und die Wirtschafterin Mrs Newsome am anderen Ende. Er wartete eine Weile, bis sich alle gesammelt hatten, dann sprach er das Morgengebet. An dessen Ende schien er kurz zu zögern, und Gracie, die die Augen geschlossen hielt,
fragte sich, ob er wohl die Tote hatte erwähnen wollen und es sich dann anders überlegt hatte.
Danach setzten sich alle. Es gab Hafergrütze sowie Toast mit Konfitüre und Tee. Sie war erstaunt, dass so wenig gesprochen wurde. War man hier immer so schweigsam, oder hing das mit dem Mord zusammen? Wie viel mochten die Dienstboten darüber wissen? Sie beobachtete die anderen während des Essens unauffällig.
»Is’ die Polizei eig’ntlich noch da?«, erkundigte sich eins der Dienstmädchen.
»Natürlich«, antwortete ihr ein dunkelhaariger Lakai. »Die bleiben so lange, bis se wissen, wer von ’n Gästen das war!«, sagte er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.
»Und wie woll’n die das rauskriegen?«, fragte Ada. »Geseh’n hat’s keiner, sons’ wüsst’ man das ja wohl – oder?«
»Keine Ahnung«, sagte der Lakai schroff. »Schließlich bin ich kein Polizist. Die wer’n schon wissen, wie se das machen sollen.«
Gracie mischte sich ein. »Ich nehm an,
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