Die Tote von Buckingham Palace
Zuschauer am Rande der Ereignisse und verfügt wohl auch nicht über die für Gewalttätigkeit nötige Explosivkraft der Gefühle.« Sie schien ein wenig kummervoll, während sie das sagte, als habe der Mann sie enttäuscht.
Wenn jemand sie nach Narraway fragte, würde sie dann auch über ihn sagen: »zu sehr Zuschauer am Rand der Ereignisse«? Würde sie klarstellen, dass er nicht aus Selbstbeherrschung keine Gewalttaten verübte, sondern weil ihm die dafür nötigen Gefühle fehlten? Er hatte geliebt und Verrat geübt, aber das lag lange zurück. Wie immer hatte er die Pflicht der Leidenschaft vorgezogen.
Nein, das stimmte nicht ganz. Leidenschaft war ein viel zu starkes Wort für das, was er empfunden hatte. Die Notwendigkeit, sich zu entscheiden, hatte sein Herz nicht zerrissen. Er erinnerte sich mit einer gewissen Beschämung daran, die ihn aber nicht quälte.
Lady Vespasia sah ihn aufmerksam an und wartete darauf, dass er ihr seine Aufmerksamkeit wieder zuwandte.
»Und Marquand?«, fragte er.
»Schon eher«, räumte sie ein. »Er ist Julius’ Halbbruder, ein oder zwei Jahre älter als er und ist wohl ziemlich eifersüchtig auf ihn. Wie Sie wissen, hat Julius Cahoon Dunkelds Tochter Wilhelmina geheiratet. Ich glaube, man ruft sie Minnie. Sie verfügt nicht nur über die Gabe, die Bewunderung der Männer auf sich zu lenken, sie nutzt sie auch so gründlich, dass mancher sie als Unruhestifterin bezeichnen würde.«
»Und Sie, Lady Vespasia?«, sagte er mit dem Anflug eines Lächelns.
»Ich halte sie für eine unglückliche junge Frau, die fortwährend schlechte Laune hat«, gab sie ohne Zögern zur Antwort. »In dem Punkt ähnelt sie ihrem Vater sehr.«
»Und was würden Sie über ihn sagen?«
»Ihn hatten Sie mir nicht als Verdächtigen genannt.«
»Nur, weil er ein Alibi hat.«
»Er wäre durchaus fähig, einen Menschen umzubringen«, sagte sie sogleich, »doch würde seine Intelligenz ihn daran hindern, das zu tun. Sollte er der Täter sein, würde ich sagen, dass das eher auf Zufall als auf einer Absicht beruht. Er verfügt über ein hohes Maß an Selbstbeherrschung, und ich kann mir nur schlecht vorstellen, dass er sich zu so etwas hinreißen lassen könnte.«
»Niemand schneidet einer Frau in einer Wäschekammer die Kehle aus Zufall durch.«
Ihre Augen weiteten sich kaum wahrnehmbar. »Das stimmt. In dem Fall bezweifle ich, dass Dunkeld der Täter ist. Wenn Sie gesagt hätten, dass er seine Frau verprügelt hat, würde ich Ihnen Glauben schenken.«
»Warum?«
»Weil er geradezu krankhaft an seinem Eigentum hängt.«
»Aha. Bleibt noch Hamilton Quase.«
»Äußerst zivilisiert«, kommentierte sie.
»Zu zivilisiert für eine Gewalttat?«
»Das auf keinen Fall! Menschen, die nach außen hin besonders zivilisiert erscheinen, entfernen sich am ehesten von der Realität.
Bestimmt wissen Sie das ebenso gut wie ich.« In ihrer Stimme lag ein leichter Vorwurf.
»Verzeihung.«
»Bitte. Sollte Mr Quase eine solche Tat begangen haben, hatte er meiner festen Überzeugung nach einen Grund dafür, den er für hinreichend hielt. Er ist durchaus bereit, für etwas, was er haben will, Risiken einzugehen und einen hohen Preis zu zahlen.«
»Wer hätte das gedacht!« Er hatte in Quase nicht einen Mann der Tat gesehen, sondern einen Träumer, jemanden, der einen beträchtlichen Teil seiner Wirklichkeit auf dem Boden einer Flasche findet. »Und was will er haben?«, fragte er.
»Vor einigen Jahren hätte ich gesagt, Liliane Forbes. Was es jetzt ist, weiß ich natürlich nicht. Möglicherweise hat sich das aber nicht geändert.«
»Er ist mit ihr verheiratet«, merkte er an.
»Um eine Frau zu besitzen, genügt es nicht, rechtmäßig mit ihr verheiratet zu sein, Victor«, gab sie zu bedenken. »Quase muss sie sehr geliebt haben, sonst hätte er sich beim Tod ihres Bruders anders verhalten. Eine äußerst unerquickliche Geschichte. Wenn Eden Forbes nicht umgekommen wäre, hätte Liliane höchstwahrscheinlich Julius Sorokine geheiratet, und manches wäre anders geworden.«
Jetzt war sein Interesse geweckt. »Watson Forbes’ Sohn?«
»Sein einziger.«
»Was war mit ihm?«
Sie standen gerade vor einem großen, überaus hässlichen Frauenporträt. Noch leiser als zuvor sagte Lady Vespasia, wobei sich ihr Gesicht verfinsterte: »Über Einzelheiten weiß man so gut wie nichts. Er ist in Afrika umgekommen, als sein Boot auf dem Fluss gekentert ist. Krokodile oder dergleichen. Für Watson Forbes ist eine Welt
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