Die Tote von Buckingham Palace
Bedürfnis empfand, etwas Bedeutendes zu tun, was für andere von Wert war? Viele Menschen würden beim Anblick dieser luxuriösen Tafel, die von Speisen überquoll, der in Seide gekleideten und mit Juwelen geschmückten Damen, ihrer Schönheit und ihres Reichtums jeden der Anwesenden heftig beneiden. Für die Männer hatte sie Verständnis: Sie alle waren angespannt, planten wie berauscht die Verwirklichung des Traums von einer Eisenbahn, die über mehr als elftausend Kilometer hinweg einen ganzen Kontinent durchziehen sollte. Das würde nicht nur Veränderungen im
britischen Weltreich hervorrufen, sondern auf dem ganzen Erdball, und spätere Jahrhunderte würden darin eine der staunenswertesten Leistungen des Menschen sehen.
Doch sie? Um Kinder zu bekommen, hatte sie zu spät geheiratet. Materielle Wünsche hatte sie keine. Sie besaß ein Haus, reichlich Kleider, brauchte sich keine Sorgen um ihre Mahlzeiten zu machen. Sie war gesund und geachtet, weil sie Cahoons Frau war. Sie selbst hatte zu all dem nicht das Geringste beigetragen.
Sie sah sich um und überlegte, ob es einen Menschen gab, dessen Leben sie auf die eine oder andere Weise erkennbar beeinflusst hatte. War jemand durch sie klüger, tapferer oder gütiger geworden? Da die Antwort auf der Hand lag, war es überflüssig, die Frage zu stellen. Davon abgesehen wäre sie ihr nie in den Sinn gekommen, wenn auch nur die geringste Aussicht auf eine bejahende Antwort bestanden hätte.
Minnie lachte. Sie war so lebhaft wie die flammend rote Seide ihres Kleides. Die Luft um sie herum schien förmlich vor Hitze zu vibrieren. War Julius tatsächlich in sie verliebt, und täuschte er seine Teilnahmslosigkeit lediglich vor? Verbarg er dahinter den dringlichen Wunsch, sie möge ihn ebenso heftig lieben?
Es wurde Elsa so übel, dass sie kaum schlucken konnte und beim bloßen Gedanken an einen weiteren Bissen zu würgen begann. War es möglich, dass Minnie Simnel ausschließlich schöne Augen machte, um Julius zur Eifersucht anzustacheln? War das Ganze ein Spiel zwischen ihnen?
Was würde Elsa empfinden, wenn Cahoon mit einer anderen schäkerte? Es würde sie kaltlassen, abgesehen davon, dass sie sich in ihrer Selbstachtung verletzt fühlen würde, wenn man ihr so offen eine andere vorzog. Jetzt gerade sprach er mit Lord Taunton über Bauholz für Bahnschwellen und Stahl für die Schienen, wobei seine Augen zu Lady Parr hinüberschweiften. Aus Höflichkeit, um ihr den Eindruck zu vermitteln, sie werde in das Gespräch einbezogen? Nein. Er lächelte ihr mit einem warmen Blick zu, den Elsa gut kannte. Auch Amelia Parr schien ihn zu kennen, nach dem befriedigten Ausdruck auf ihren Zügen zu urteilen.
Warum liebte man einen Mann und einen anderen nicht? Verfügte Julius tatsächlich über etwas Edles oder Schönes, was Cahoon nicht zu Gebote stand, oder bildete sie sich das nur ein, weil es ihr lieb gewesen wäre? Sie versuchte sich an jede Gelegenheit zu erinnern, bei der sie miteinander gesprochen hatten, an seine Besuche in Minnies Begleitung. Was hatte sie an seinen Worten oder Taten fasziniert, dafür gesorgt, dass sie in ihm mehr sah als einen Mann, dessen Gesicht Einfühlungsvermögen versprach, den Eindruck vermittelte, er könne zärtlich sein oder fähig, etwas Besseres zu tun, als lediglich nach seinem eigenen Nutzen zu streben?
Jetzt sprach Julius mit Lord Taunton. Simnel sah aufmerksam hin und wartete auf eine Gelegenheit, selbst etwas zu sagen. Unter der Maske der Höflichkeit brannte Zorn in ihm. Er hielt das Heft seines Messers umklammert und würdigte den Hummer auf seinem Teller keines Blickes.
»Mit den größten Schwierigkeiten müssen wir möglicherweise im Kongo rechnen«, sagte Julius. »Da König Leopold von Belgien davon träumt, seine Herrschaft in Afrika auszuweiten, wird er für eine Durchquerung seines Gebietes einen exorbitant hohen Preis verlangen.«
»Großer Gott, Julius«, sagte Simnel ungeduldig. »Die Bahn würde dem ganzen afrikanischen Kontinent nichts als Vorteile bringen. Falls sich Leopold ihr widersetzt, legen wir sie eben durch Deutsch-Ostafrika. Die Deutschen sind ohnehin viel vernünftiger als die Belgier. Wenn man dich reden hört, könnte man glauben, es gebe außer Leopold keinen Verhandlungspartner. Erwartest du eigentlich, dass dir alles in den Schoß fällt, ohne dass du einen Finger krümmen musst?« In seinen Augen lag Bitterkeit, und seine Schultern wirkten unter dem schwarzen Tuch seines Smokings
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