Die Tote von Buckingham Palace
Ma’am.«
»Ich verstehe«, sagte Mrs Sorokine mit beinahe erstickter Stimme. War sie gekommen, um sich das bestätigen oder widerlegen
zu lassen? »Wie sahen denn die beiden anderen bei ihrem Weggang aus, und wer hat sie hinausgeführt?«
»Wie die beiden gegangen sind, ha’m se genauso ausgeseh’n wie vorher«, teilte ihr Biddie mit. »Nur ’n bisschen mitgenomm’. Is’ ja auch weiter kein Wunder. Die hatten da oben wohl ziemlich gebechert. Aber verletzt oder so war keine.«
»Und wie hat der Fuhrmann ausgesehen, der die Kiste gebracht hat?«, ließ Mrs Sorokine nicht locker. »War er kräftig? Hätte er Ihrer Ansicht nach die Frau überfallen können? Hat er einen gewalttätigen Eindruck gemacht?«
Mit gefühlvoller Stimme sagte Biddie: »Tut mir schrecklich leid, Ma’am, aber für so was war der wohl zu alt. Wie ich gehört hab, hat er die Kiste zusamm’ mit ’nem Lakai raufgebracht und is’ dann gleich wieder runtergekomm’, sich um sein Pferd kümmern. Dann is’ er noch mal rauf und hat die leere Kiste abgeholt. Tut mir schrecklich leid, aber das hilft Ihn’ bestimmt nich’ weiter, so gern ich Ihn’ den Gefallen tun würde.«
»Das ist schon in Ordnung, vielen Dank«, sagte Mrs Sorokine. Erneut raschelten ihre Röcke. Wahrscheinlich hatte sie sich wieder bewegt. »Ich bin Ihnen für Ihre Hilfe sehr verbunden. Bitte sagen Sie niemandem, dass ich mit Ihnen über diese Dinge gesprochen habe.«
»Natürlich nich’, Ma’am«, versprach Biddie. Gracie hörte, wie sich das Rascheln entfernte und wie Biddie im nächsten Augenblick verwundert ausstieß: »So ’n dummes Stück! Hat nich’ mal ihr Unterhemd mitgenomm’!«
Gracie stand auf, erleichtert, sich endlich bewegen zu können. Sie ging zu Biddie hinein und machte sich erbötig, es Mrs Sorokine zu bringen, sobald sie mit der Waschküche fertig sei. Es dauere nicht mehr lange.
»Nett von Ihn’«, sagte Biddie, aufrichtig dankbar.
Als Gracie eine Viertelstunde später mit dem ordentlich gefalteten Unterhemd auf dem Arm an Mrs Sorokines Tür klopfte, zeigte sich, dass diese verschlossen war. Norah, in der Küche auf
diesem Gang, wusste nicht, wo sich die Dame aufhielt, vermutete aber, dass sie nach unten gegangen sei.
»Schon wieder?«, fragte Gracie. »Sind Se sich da sicher?«
»Aber ja«, sagte Norah empört. »Die is’ heute ziemlich komisch.« Sie war dabei, die großen Teedosen einzuräumen, die sie frisch gefüllt hatte: Darjeeling, Earl Grey, chinesischer Tee. »Die is’ nich’ halb so schön wie Mrs Quase, un’ trotzdem kann jeder seh’n, dass Mr Marquand nur Augen für sie hat. Je’nfalls sagt Ada das. Das scheint ihr sogar zu gefallen. Von mir hat se wissen woll’n, wer mitten in der Nacht mit Wassereimern, Scheuerlappen und so durch die Gänge gerannt is’. Wie wenn ich das wüsste! Jetz’ is’ se nach unten. Da will se Timmons fragen.«
»Nach was?«
»Wer geputzt hat, wer Scherben weggebracht, Eimer mit Wasser geschleppt, Scheuerlappen und Besen gebracht hat, und weiß der Kuckuck was noch! Ha’m Se denn nix davon mitgekriegt?«
Gracie erstarrte vor Aufmerksamkeit. »Wann?«
»Natürlich in der Nacht, wo se die, na ja, Se wissen schon, umgebracht ha’m.«
»Dann ha’m die also in der Wäschekammer geputzt«, folgerte Gracie. »Is doch wohl klar.« Sie dachte an das Messer. »Wer war’s denn überhaupt?«
»Nee, e’m nich’ die Wäschekammer, Sie Schlaumeier«, gab Norah spitz zurück. »Darum hat sich der Polizist gleich am nächsten Tag gekümmert. Das war im andern Flügel, da, wo Ihre Hoheiten schlafen un’ die Königin natürlich. Aber die Zimmer von der sind noch ’n Stück weiter. Vielleicht sollt’ niemand wissen, dass die Schlampe beim Prinz gewesen war. Weiß der Geier, warum! Der Polizist is’ vielleicht nich’ so gerissen wie die, aber dumm isser auch nich’! Der hat längst spitzgekriegt, wo die Schlampe war. Fragen Se mich bloß nich’, was für Porzellan da zerdeppert worden is’. Davon hab ich keine Ahnung.«
»Und all das will Mrs Sorokine wissen?« Was mochte im Kopf dieser Frau vor sich gehen?
»Hat se je’nfalls gesagt. Soll ich ihr das ge’m, wenn se wiederkommt?« Sie wies auf das Unterhemd.
»Ja … bitte. Ich geh runter und sag ihr, dass es hier is’.« Gracie gab es ihr und machte auf dem Absatz kehrt, entschlossen festzustellen, wonach Mrs Sorokine suchte. In ihrem Kopf jagten sich die Gedanken. Warum stellte die Frau all diese Fragen? Was vermutete sie? Ihr
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